Die dunkle Seite der Weiblichkeit

Der erste Satz
Sie tanzten.

Krimi der Woche∙ N° 04/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

„Jedes Mädchen möchte Ballerina werden …“, heisst es in der Werbung der Ballettschule Durant. Geführt wird sie von den Schwestern Marie und Dara Durant und Daras Ehemann Charlie. Die von ihrer Mutter – und strengen Ballettausbildnerin – gegründete Schule in einer namenlosen Stadt haben sie schon in ihren späten Teenagerjahren übernommen, nachdem die Mutter bei einem Autounfall getötet worden war. Charlie war mit 13 als Tänzer zur Familie gestossen. Inzwischen sind die drei Anfang 30. „Sie waren zu dritt. Immer sie drei. Bis sich das änderte. Und ab da ging alles schief“, heisst es am Ende des ersten Kapitels von „Aus der Balance“. Es ist der neueste Roman der amerikanischen Autorin Megan Abbott, die damit endlich wieder ins Deutsche übertragen wird.

Die faszinierende, verteufelt raffiniert geplottete Geschichte führt tief in die Welt des Balletts. Doch es geht Abbott hier nicht um eine Art Schlüsselroman aus der künstlerischen Tanzszene. Das Ballett mit all den geschundenen Körpern und Seelen bietet ihr einen idealen Hintergrund für einen Psychothriller mit Gothic-Elementen, der von der dunklen Seite der Weiblichkeit handelt.

Das Leben des Trios von der Ballettschule ist voll von düsteren Geschichten und Geheimnissen, die auch ihren Alltag beeinflussen, aber sorgsam gehütet werden. „Es fühlte sich alles richtig an, wie selbstverständlich. Vorzugeben, es sei nichts passiert. Geheimnisse zu wahren. Alles zu verbergen. Sie hatten es ihr ganzes Leben lang getan.“ Während Marie eher wie ein Teenager wirkt, ist Dara geschäftstüchtiger. Als eigentlicher Geschäftsführer wirkt Charlie, dessen Körper beim Ballett so zerstört wurde, dass er nicht mehr tanzen kann.

Nachdem Marie aus dem elterlichen Haus, das sie mit Dara und Charlie bewohnte, verlassen hat und in der Ballettschule haust, beginnt die Dreisamkeit Schritt für Schritt auseinanderzubrechen. Ein nächtlicher Brand durch einen Heizofen zerstört einen der Ballettsäle. Der Bauunternehmer Derek, der die Instandstellung übernimmt, beginnt bald eine obsessive Affäre mit Marie. Derweil gehen die Arbeiten nicht wirklich vorwärts, es gibt immer neue Probleme. Und neue Vorschläge von Derek, wie alles viel besser werden könnte. Und auch auf das alte Durant-Wohnhaus wirft er bald schon begehrliche Blicke. Derweil arbeiten die Schwestern mit den Kindern und Teenagern in ihrer Schule an der alljährlichen „Nussknacker“-Aufführung in der Weihnachtszeit.

„Es geht nicht um Leben und Tod“, sagt sich Dara. „Das hatte sie sich in ihrer Zeit als Tänzerin immer wieder vorgebetet. Vor einem grossen Auftritt oder danach. Vor einem Vortanzen, einem Solo. Aber dein Körper kennt den Unterschied nicht.“ Doch dann geht es zwar nicht auf dem Tanzparkett, aber daneben, doch um Leben und Tod. Die von Beginn weg unterschwellig bedrohlich wirkende und oft sexuell grundierte Geschichte entwickelt sich zu nach und nach zu einem veritablen Noir-Drama. Es kommt zu Ereignissen, die neben den Psycho- und Gothic-Elementen auch einen veritablen Krimi aus der Geschichte machen könnten. Doch darum geht es hier nicht. Sondern um Beziehungen und Familie, um Ehrgeiz und Beeinflussung, um das Heranwachsen und Missbrauch, um das Entdecken und Ausleben von Erotik oder auch rohem Sex, um Trauer und Wut. Und immer wieder um Schmerz. Körperlichen und seelischen. „Wir haben eine andere Beziehung zum Schmerz“, hatte ihre Mutter immer gesagt. „Er ist unser Freund, unser Geliebter.“

Wertung: 4,5 / 5

Megan Abbott: Aus der Balance
(Original: The Turnout. G. P. Putnam's Sons, New York 2021)
Aus dem Englischen von Karen Gerwig und Angelika Müller. Mit einem Nachwort von Thekla Dannenberg
Pulp Master, Berlin 2023. 416 Seiten, 16 Euro/ca. 24 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Drew Reilly 

Megan Abbott,

geboren 1971 in Detroit, Michigan, wuchs in Grosse Pointe auf, einem Vorort von Detroit, und studierte an der University of Michigan. An der New York University promovierte sie in englischer und amerikanischer Literatur. An der NYU unterrichtete sie in der Folge auch, ebenso an der State University of New York und an der New School University ebenfalls in New York.

Als Kind faszinierten sie Filme aus den 1930er und 1940er Jahren, die sie in einem Kino in Grosse Pointe sah. Diese weckten ihr lebenslanges Interesse an Crime Fiction. Ihre ersten Romane waren denn auch stark beeinflusst vom klassischen Film noir, während spätere Werke eher Psychothriller sind. Sie debütierte 2005 mit „Die a Little“. Bisher hat sie zehn Romane veröffentlicht; „The End of Everything“ (2011) erschien auch auf Deutsch: „Das Ende der Unschuld“ (Kiepenheuer & Witsch, 2012).

Dank dem auf Noir-Kriminalliteratur spezialisierten kleinen Berliner Verlag Pulp Master erscheinen nun mehrere Werke der mehrfach preisgekrönten Autorin endlich auf Deutsch. Den Anfang macht Verleger Frank Nowatzki mit Abbotts neuestem Werk, „The Turnout“ (2021), das jetzt unter dem Titel „Aus der Balance“ erschienen ist. Folgen werden „Dare Me“ (2012) unter dem Titel „Wage es nur!“ sowie „Queenpin“ (2007).

Megan Abbott ist auch Drehbuchautorin und TV-Produzentin. Sie wirkte als Autorin bei der Serie „The Deuce“ mit sowie als Autorin und Produzentin bei der TV-Version ihres Romans „Dare Me“. Auch „The Turnout“ soll verfilmt werden. Sie ist zudem Herausgeberin der Frauen-Krimi-Anthologie „A Hell of a Woman“ und Autorin des Sachbuchs „The Street Was Mine: White Masculinity in Hardboiled Fiction and Film Noir“ (2002).

Abbott ist verheiratet mit dem Schriftsteller Joshua Gaylord. Sie lebt im New Yorker Stadtteil Queens.


Zurück
Zurück

Korruption und Mord in Budapest

Weiter
Weiter

Schwarzgeld im Plastiksackerl als Wahrzeichen alpiner Bestechlichkeit