Schwarzgeld im Plastiksackerl als Wahrzeichen alpiner Bestechlichkeit

Der erste Satz
Viele haben gefragt, warum es wert ist, diese Geschichte zu erzählen, und ich sage immer, alle Geschichten, die ich erzähle, sind wahr, weil ich an das geglaubt habe, was ich gesehen habe, und auf meinen Reisen durch all diese Länder und diese Städte, die mich mal mehr oder weniger freundlich und dann doch immer wieder wie einen Aussätzigen empfangen haben, aus der Stadt gefegt, geteert und gefedert, geliebt und geschasst, auf all diesen Reisen war ich ziellos, ein warmes Bett und ein Frühstück zu ergattern, sei es bei einem Freund aus besseren Tagen oder einer Zufallsbekanntschaft, war das Höchste der Gefühle und Ansprüche, aus dem Nichts hinein in eine Welt, die sich mir erschliessen würde, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, hinein ins Unbekannte, alles Bekannte rutschte zurück, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr, immer weiter zurück im Kopf, in den hinteren Schädel, dem Vergessen anheimfallend, anheim, Oheim, wo bist du gewesen, wo bist du daheim, in dieser Welt ist man allein, Wolken am Himmel, Wolken, die alles verdunkeln, nur die Erinnerung an diesen Sommer leuchtet hinter düsteren Gefilden wie ein unauslöschlicher Stern, ein gleissend heller Punkt, ein winziger Urknall, aus dem alles entstanden ist, was ich heute bin.

Krimi der Woche∙ N° 03/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Siebzehn Jahre ist er weggewesen, als „Streuner und Tagedieb, immer unterwegs, immer suchend“. In seinem Ford Escort, Baujahr 91, grau metallisé, mit Ralleystreifen, rot, kehrt Mike Bittini zurück in seine Heimatstadt, nach Wien. Sein Bruder Sandro liegt im Koma. Da dieser mittlerweile ein prominenter Anwalt ist, hat die Nachricht Mike irgendwo erreicht. Weggegangen ist Mike, als er den Kampf um Gloria gegen seinen Bruder und Rivalen verloren hatte. Nun ist er zurück und will mal sehen, wer heute wem die Frau ausspannt. Gloria hat Sandro geheiratet, das Paar hat zwei Kinder, die siebzehnjährige Stefanie und den vierzehnjährigen Niki. Mike ist ihr Onkel, den sie bisher noch nie gesehen haben.

„Der Onkel“ heisst der erste Roman des österreichischen Schauspielers und Drehbuchautors Michael Ostrowski. Es ist ein komödiantisches Schelmenstück, das es bereits auch als Kinofilm gibt, dessen Koautor, Koregisseur und Hauptdarsteller – er spielt gleich beide Bittini-Brüder selbst – Ostrowski ist. Es ist eine wilde Geschichte, in sprudelndem österreichisch gefärbtem Deutsch und Duktus erzählt, angereichert mit Zeilen aus Songs, vollgepackt mit verrückten Ideen, wüsten Szenen und Humor, der von der schenkelklopfenden bis zur ziemlich dunklen Art reicht.

Mike bringt reichlich Chaos in das Familienleben im gediegenen Haus mit Swimmingpool am Stadtrand. Er war als Spieler und Trickbetrüger unterwegs, in Sachen Frauen liess und lässt er nie etwas anbrennen. Seine grosse Liebe war und ist aber Gloria, und während sein Bruder auf der Intensivstation im Koma liegt, macht er sich in dessen Heim breit. Gloria ist hin und her gerissen zwischen Anziehung und Abscheu, sie mag das Wilde und Verrückte an Mike, fürchtet aber auch das Tohuwabohu, das er unweigerlich anrichtet. Die Kids mögen den schrägen Onkel, der ein bisschen Anarchie in das bieder-bürgerliche Familienleben bringt.

Doch dann wird Gloria plötzlich bedroht. Kompagnons wollen das Geld, das Sandro zu Hause gebunkert habe. Schmiergeld offenbar, das dringend eingesetzt werden muss. Durch das Handy ihres Mannes findet sie mit Mikes Hilfe rasch heraus, dass ihr Mann in einem Korruptionssumpf um Immobilien steckt. Sie fällt aus allen Wolken, als sie tatsächlich ganze Stapel von Banknotenbündeln findet. „Mike nickte anerkennend, ja, eine österreichische Spezialität war das, so wie das Wiener Schnitzel oder die Marmelade-Palatschinke. Das Schwarzgeld im Plastiksackerl war das Wahrzeichen der alpinen Bestechlichkeit, nicht wegzudenken in der Korruptionsgeschichte der Nation.“

So hitzig und witzig die Geschichte auch daherkommt, sie ist – im Buch sicher mehr als im Film, den ich aber nicht gesehen habe – in verschiedener Hinsicht auch tiefgründig und streckenweise auch ganz schön düster. Zum einen natürlich in der Darstellung des Filzes zwischen skrupellosen Geschäftemachern und nimmersatten Politikern. Zum anderen auch, wenn es um die Familie geht, um Beziehungen und, ja, um die wahre Liebe.

Das sind zwar universelle Themen, dennoch ist „Der Onkel“ ein Buch, das nur aus Österreich kommen kann. Das ist sowohl lobend wie kritisch gemeint: Auf der einen Seite steht die unbändige Fabulierlust und die kreative Sprache, auf der anderen eine gewisse Geschwätzigkeit, die zwar den flotten Fluss der Geschichte kaum bremst, ihn aber inhaltlich zuweilen etwas verdünnt.

Wertung: 3,5 / 5

Michael Ostrowksi: Der Onkel
Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2022. 320 Seiten, 24 Euro/ca. 34 Franken

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Bild: Nora Obergeschwandner 

Michael Ostrowski,

geboren 1973 als Michael Stockinger in Leoben in der Steiermark, studierte ab 1991 Englisch und Französisch in Graz, Oxford und New York. Während dem Studium kam er „eher zufällig“ zur Schauspielerei durch den Kontakt zur experimentellen Theatergruppe Theater in Bahnhof in Graz. Ab 1993 trat er im Theater auf; 2002 gewann er mit diesem Theater den Nestroy-Preis für die beste Off-Produktion.

Seine Filmkarriere begann 2001 mit einem Auftritt in einem Kurzfilm, 2002 spielte er im Kinofilm „Nogo“. In dieser Zeit änderte er seinen Nachnamen von Stockinger zu Ostrowski, weil es einen anderen Schauspieler und Kabarettisten namens Michael Stockinger gibt. Inzwischen hat Ostrowski in rund drei Dutzend Kinofilmen gespielt, darunter „Nachtschnecken“ (2004) von Michael Glawogger und „Ich war noch niemals in New York“ (2010) von Philipp Stölzl sowie in mehreren Fernsehfilmen und Serien. Für mehrere Filme hat er das Drehbuch geschrieben. Erstmals Regie führte er 2016 bei „Hotel Rock ’n’ Roll“, dem dritten Teil der „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll“-Trilogie von Michael Glawogger, der 2014 gestorben war.

Sein Romandebüt „Der Onkel“ ist die Buchfassung des gleichnamigen Films, den er gemeinsam mit Helmut Köpping schrieb und inszenierte und der im Frühjahr 2022 ins Kino kam. Ostrowski spielt darin als Doppelrolle die beiden Brüder Mike und Sandro Bittini; ein Sohn und eine Tochter von ihm spielen die Bittini-Teenager. Die deutsche Komikerin und Schauspielerin Anke Engelke spielt Sandros Frau; weitere Rollen spielen Ostrowskis Lebenspartnerin Hilde Dalik und der bayerische Kabarettist Gerhard Polt.

Michael Ostrowksi lebt seit 2012 in einer Beziehung mit der Schauspielerin Hilde Dalik („Vorstadtweiber“) in Wien; das Paar hat eine 2019 geborene Tochter. Aus einer früheren Ehe hat Ostrowski drei weitere Kinder, eine Tochter und einen Sohn, die bereits erwachsen sind, und einen Sohn im Teenageralter.


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