Korruption und Mord in Budapest
Der erste Satz
Er lag auf dem Rücken, den Schlafsack zwischen den Beinen verheddert, das Nylon feucht auf seiner Haut.
Krimi der Woche ∙ N° 05/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Anfang September 2015 in Budapest: Beim Keleti-Bahnhof sitzen Tausende von Flüchtlingen aus dem Süden fest. Unterstützung erhalten sie nur von wenigen engagierten Bürger:innen. Der Staat tut nichts für sie, eher im Gegenteil. Die Flüchtlinge möchten weiter nach Westeuropa, doch wer sich keine teuren Schleuser leisten kann, wartet hier. Die Stimmung ist aufgeheizt. Detektiv Balthazar Kovács von der Mordkommission erhält von einem unbekannten Absender aufs Smartphone das Bild eines Toten, wohl ein Flüchtling, auf einem Grundstück beim Platz der Republik. Als er dort eintrifft, gibt es zwar noch Blutspuren, aber keine Leiche. Von einem streunenden Roma-Jungen erfährt er, dass Männer mit einem Lieferwagen den Toten mitgenommen hätten. Und gleich tauchen neue Männer auf: die Gendarmerie, eine vom Ministerpräsidenten persönlich geführte Eingreiftruppe mit weitreichenden Kompetenzen. Ihr Anführer, Kovács’ früherer Partner bei der Polizei, macht ihm klar, dass er hier nichts verloren habe und es keinen Fall für die Mordkommission gebe.
Es beginnt dramatisch, und so bleibt es auch in „District VIII“, dem ersten Band der Kovács-Trilogie des Briten Adam LeBor. Der Autor lebte als Journalist nach dem Ende des Kommunismus viele Jahre in Budapest, er kennt die Schauplätze sowie Land und Leute, das politische System und die allgegenwärtige Korruption aus nächster Nähe. Mit dem Polizisten Balthazar Kovács, Freunde nennen ihn Tazi, hat LeBor einen spannenden Protagonisten geschaffen. Denn Kovács ist Roma. Und damit ein Aussenseiter bei der Polizei, ein „Zigeuner“. Aber auch bei den Roma ist er zum Aussenseiter geworden; selbst sein Vater will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die Konstellation erinnert entfernt an den „katholischen Bullen“ Sean Duffy von Adrian McKinty bei der protestantisch geprägten Polizei Nordirlands. Viele katholische Nordiren stehen mit der Polizei auf Kriegsfuss. Auch viele Roma in Ungarn. Und Kovács’ Bruder ist ein Gangsterboss.
Kovács Motivation, auf der anderen Seite zu arbeiten: „In einem Land, das von Wandel erschüttert wurde, vor Korruption strotzte und von einer politischen Klasse regiert wurde, die vor allem an der eigenen Bereicherung interessiert war, war das Gesetz seiner Meinung nach der einzige Garant für die Freiheit.“ Dabei zeichnet LeBor seinen Helden zwar durchaus als „Guten“, aber nicht plump, sondern auch mit Widersprüchen, vor allem wenn es um seine Familie geht.
LeBor entwickelt eine packende Geschichte mit reichlich harter Action rund um das Flüchtlingsdrama, in dem es nicht nur um den Toten vom Platz der Republik geht, sondern auch um politische Korruption bis in die höchsten Ämter. Regierungsleute betreiben einen lukrativen Handel mit Pässen, dank dem islamistische Terroristen mitten im Flüchtlingsstrom in den Westen reisen können. Kovács legt sich dabei mit fast allen an.
Wiewohl die Hauptfigur ein Polizist ist, ist „District VIII“ kein typischer Polizeiroman im Sinn der klassischen „Police Procedurals“, sondern eine attraktive Mischung aus hartem Noir und Politthriller. Detailreichtum sorgt für Authentizität. LeBor geizt nicht mit seinen Kenntnissen. Manchmal überbordet er etwas, wenn er Schauplätze nicht nur sehr ausführlich beschreibt, sondern auch noch aus der Geschichte der Orte erzählt, und wenn er manche Dinge für meinen Geschmack etwas zu genau erklärt und zu wenig darauf vertraut, dass die Leser:innen auch selbst zu gewissen Einsichten kommen könnten. Das macht den Roman aber nicht weniger spannend. Und ich freue mich auf die weiteren Romane mit Tazi Kovács.
Wertung: 3,7 / 5
Adam LeBor: District VIII
(Original: District VIII. Head of Zeus, London 2018)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Mit einem Nachwort von Carsten Germis
Polar Verlag, Stuttgart 2023, 396 Seiten, 25 Euro/ca. 37 Franken
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Adam LeBor,
geboren 1961 in London, studierte an der Leeds University, wo er auch Redakteur der Studentenzeitung war. Nach dem Abschluss arbeitete für verschiedene Zeitungen an der Londoner Fleet Street. „Meine Aufgaben reichten von der Suche nach dem besten Dry Martini Londons bis zu Recherchen über Nazi-Kriegsverbrecher, die in Grossbritannien Zuflucht gefunden hatten“, schreibt er auf seiner Website.
1991 zog er nach Budapest um als Auslandkorrespondent um über den Aufbruch nach dem Ende des Kommunismus zu berichten. Er war auch oft in Kroatien, Serbien und Bosnien, um über die Jugoslawienkriege der 1990er zu berichten. Dazwischen zog er für ein Jahr nach Paris, um seinen ersten Roman „The Budapest Protocol“ (2014) zu schreiben. Danach kehrte er nach Budapest zurück.
Er schrieb mehrere Sachbücher, darunter „Hitler’s Secret Bankers: How Switzerland Profited from Nazi Genocide“ (1997) über die Rolle der Schweizer Banken im Zweiten Weltkrieg und „Tower of Basel: The Shadowy History of the Secret Bank That Runs the World“ (2014) über die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, das auch auf Deutsch erschien („Der Turm zu Basel: BIZ – Die Bank der Banken und ihre dunkle Geschichte“. Rotpunktverlag, Zürich 2014).
Inzwischen hat er acht Romane veröffentlicht, darunter eine Trilogie um eine verdeckte Unterhändlerin der Uno. Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „District VIII“ ist der erste Band einer im Original kürzlich abgeschlossenen Trilogie um Detektiv Balthazar Kovacs von der Budapester Mordkommission.
Er habe im Lauf der Jahre in 30 Ländern gearbeitet „und dabei einige haarsträubende Abenteuer erlebt“, schreibt LeBor über sich. „Ich wurde verhaftet, beschossen und mit Tränengas beworfen, habe Länder sterben und neue Nationen entstehen sehen und bin im Flugzeug eines Premierministers mitgeflogen. Einmal traf ich in einer Bar in Odessa einen Mann, der mir eine MiG-29 mit zusätzlichen Raketen verkaufen wollte – ein Schnäppchen für 8 Millionen Dollar. Heute lebe ich mit meiner Familie ein viel ruhigeres Leben in London.“