Ein ebenso hartes wie vergnügliches Räuberstück

Der erste Satz
Wyatt hatte sich in diesem Jahr in Sydney niedergelassen.

Krimi der Woche ∙ N° 37/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Nicht dass früher alles besser gewesen wäre. Aber für Wyatt war manches einfacher. Die Zeiten, in denen der professionelle Räuber einen Lohngeldtransporter überfallen konnte, sind Geschichte. Grössere Mengen Bargeld sind kaum noch unterwegs. Wyatt stiehlt nun hier ein Bild, dort ein paar wertvolle Sammelstücke. Sachen, die er bei Hehlern zu Geld machen kann. Das Gute daran ist für den Einzelgänger, dass er sich dafür nicht mit Komplizen zusammentun muss, die sich dann als unzuverlässig Amateure oder risikofreudige Idioten erweisen oder gar als hinterlistige und gierige Gegner. Das Schlechte: Es kommt kaum mehr genug Geld herein, um ausserhalb des Gesetzes einigermassen sicher leben zu können. Wyatt braucht wieder einmal einen grossen Coup.

Kaum ist der australische Altmeister Garry Disher mit seinem ruralen Polizeiroman „Barrier Highway“, den ich hier kürzlich wärmstens empfohlen habe, auf den Spitzenplatz der monatlichen Krimibestensliste für den deutschsprachigen Raum vorgestossen, ist auch ein neuer Wyatt-Roman des brillanten Erzählers erschienen: „Moder“. Während in seinen anderen Kriminalromanen Polizisten die Helden sind, ist in der nun neun Bände umfassenden Wyatt-Reihe der Verbrecher der Held. Beziehungsweise der Antiheld.

Wyatt ist ein analoger Mann, der in einer zunehmend digitalisierten Welt seinen Weg suchen muss. Er ist ein Handwerker, der sein Metier mag und es so gut wie möglich ausübt. Er hält sich durchaus an Regeln, aber nur an seine eigenen. Er plant minutiös, macht alles, um mögliche Risiken gar nicht entstehen zu lassen. Jetzt ist er am Anlagebetrüger Tremayne dran, der nach dem sogenannten Ponzi-Schema, einem Schneeballsystem, gutgläubige Anleger abgezockt hat. Sein Partner sitzt hinter Gittern. Tremayne, so der Tipp, den Wyatt aus dem Gefängnis erhielt, hat irgendwo viel Bares gebunkert und wird sich absetzen, wenn sich die Schlinge um seinen Hals zuzieht.

Nicht nur Wyatt ist hinter Tremaynes geheimem Schatz her. Zudem gerät Wyatt selbst ist ins Visier von Verfolgern. Ein Afghanistan-Veteran will an seine versteckten Beutegelder. Und ein cleverer Polizist kommt dem einsamen Wolf auf die Spur. Das alles führt zu Komplikationen, die auch Wyatt nicht ohne Blessuren übersteht.

„Moder“ ist ein schönes Beispiel für die moderne Kriminalliteratur, die sich intelligent mit sozialen und gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzt. Und dies – im Gegensatz zu anderen Büchern, die das auch tun – ohne schulmeisterlich zu dozieren und wohlfeil zu moralisieren. Sondern, wie hier, in Form eines harten, schlauen, spannenden und auch vergnüglichen Räuberstücks.

Wertung: 4,6 / 5

Garry Disher: Moder
(Original: Kill Shot. The Text Publishing Company, Melbourne 2018)
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller
Pulp Master, Berlin 2021. 302 Seiten, 14,80 Euro/ca. 22 Franken

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Bild: Darren James

Garry Disher,

geboren 1949 in Burra, South Australia, ist auf einer Farm in Südaustralien aufgewachsen und wollte schon als Kind Schriftsteller werden. Er studierte zunächst Geschichte an der Adelaide University und bereiste dann Europa und Afrika. Nach der Rückkehr schrieb er eine Masterarbeit an der Monash University. Gleichzeitig begann er Kurzgeschichten zu schreiben, und er erhielt ein Stipendium für ein Creative Writing Fellowship an der Stanford University. Während vielen Jahren lehrte er in Melbourne neben seiner schriftstellerischen Arbeit kreatives Schreiben.

Inzwischen ist er längst einer der bekanntesten australischen Schriftsteller. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, neben Kriminalromanen auch andere Romane, Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher zur Geschichte Australiens und über das Schreiben. 1996 wurde sein Roman „The Sunken Road“, der auf Deutsch nicht erschienen ist, für den Booker Prize nominiert.

Zu Dishers Krimis zählen insbesondere drei herausragende Serien. Sieben Bände umfasst die Serie mit Inspector Challis (Deutsch im Unionsverlag). In der 1991 gestarteten Reihe um den Berufsverbrecher Wyatt (Deutsch bei Pulp Master) sind bisher neun Bände erschienen. Seit 2020 sind drei Bände mit dem aufs Land verbannten Polizisten Paul „Hirsch“ Hirschhausen erschienen (Deutsch im Unionsverlag).

Mehrere von Dishers Krimis waren auf der Shortlist für den Ned Kelly Award, den wichtigsten Krimipreis Australiens, den er für zwei Bücher und schliesslich auch für sein Gesamtwerk gewann. Seine Bücher erscheinen auch in den USA und in Grossbritannien sowie in mehreren anderen Sprachen. Vor allem im deutschen Sprachraum sind sie sehr erfolgreich.

Garry Disher lebt auf der Halbinsel Mornington südöstlich von Melbourne im australischen Bundesstaat Victoria.


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