In Dallas stapeln sich die Leichen
Der erste Satz
Ich sitze auf dem Hintern vor der Wohnung, den Kopf an den Türrahmen gelehnt, die Beine angezogen und die Waffe mit beiden Händen gegen mein Brustbein gedrückt, und erstelle einen geistigen Lageplan: drei Stockbetten, vier Leichen auf blutverschmierten Laken, vor dem ersten Bett mein Kollege, drei Kugeln in der Brust, und irgendwo dazwischen ein Irrer mit einem schreienden Säugling und einer Semiautomatik.
Krimi der Woche ∙ N° 38/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger
Detective Betty Rhyzyk von der Drogenabteilung der Polizei in Dallas, Texas, liegt mit ihrem Team auf der Lauer, um den mexikanischen Drogenhändler Tomás „El Gitano“ Ruiz zur Strecke zu bringen. Doch die Aktion misslingt, es kommt zu einer wilden Schiesserei, es gibt Tote, und Ruiz entkommt. Betty ermittelt weiter, sucht nach Ruiz. Und die Leichen beginnen sich zu stapeln. Schliesslich gerät sie selbst ins Visier unheimlicher Gegner, die ihr den Kopf des Gesuchten als Paket nach Hause liefern.
Mit Betty Rhyzyk hat Kathleen Kent eine aussergewöhnliche Krimiprotagonistin geschaffen. Die US-Autorin war zuvor bekannt für historische Romane, mit 64 Jahren veröffentliche sie 2017 ihren ersten Krimi „The Dime“, der jetzt unter dem Titel „Die Tote mit der roten Strähne“ auf Deutsch erschienen ist. In den USA erscheint im November nun bereits ihr dritter Detective-Betty-Roman.
Betty Rhyzyk kommt aus einer aus Polen stammenden Polizistenfamilie in Brooklyn. Sie ist grossgewachsen, kann auf die meisten Kollegen hinuntersehen. Ihr Markenzeichen ist ihr feuerroter Haarschopf. Nach Dallas hat sie die Liebe geführt. Die Liebe zu einer Frau. Damit haben einige ihre liebe Mühe, etwa ein Kollege aus der Mordabteilung, der unermüdlich mit ihr zu flirten versucht. „Denn ersten Korb kassierte er, als er mich zum Dinner einlud. Damals fragte er mich allen Ernstes: ‹Zu schüchtern?›, worhaufhin ich entgegnete: ‹Nein, zu lesbisch.›“
Betty ist nicht aufs Maul gefallen. Sie neckt ihre texanischen Kollegen schon mal mit einem alten Kalauer ihres Polizistenonkels Benny aus Brooklyn: „Was ist der Unterschied zwischen Joghurt und Texas?“ Die Antwort: „Joghurt hat lebende Kulturen.“ Onkel Benny kommt immer wieder vor, seine Ratschläge und Bemerkungen sind manchmal etwas schräg, oft aber auch ernst. Als schwerste Lektion für werdende Polizisten nannte er: „Frustration tolerieren, Langeweile aushalten, Apathie bekämpfen und sich gegen das Böse im Menschen wappnen.“
Trotz reichlich brutaler Gewalt ist der actionreiche Roman ziemlich vergnüglich. Das liegt daran, dass Kathleen Kent eine gute Erzählerin mit Sinn für Humor ist, die ihre Heldin mit reichlich Sarkasmus ausstattet. Dank einer guten Übersetzung funktioniert das auch auf Deutsch bestens. Zum Beispiel so: „Der Typ hat einen kahlrasierten Schädel, aber einen Vollbart und trägt karierte Shorts, dazu schwarze Socken und weisse Sneaker. Er ist genau die Art von Hipster, die ich am liebsten an einen Stuhl binden würde, um ihnen die Schamhaare aus dem Gesicht zu rasieren und sie ihnen auf die polierte Glatze zu kleben.“
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Wertung: 3,8 / 5
Kathleen Kent: Die Tote mit der roten Strähne
(Original: The Dime. Mulholland Books, New York 2017)
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Suhrkamp, Berlin 2021. 363 Seiten, 16,95 Euro/ca. 25 Franken
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Kathleen Kent,
geboren 1953 in Meadville im US-Bundesstaat Pennsylvania, ist in Dallas aufgewachsen und besuchte die University of Texas. Während 20 Jahren arbeitete sie in New York im Finanzsektor. Im Rahmen einer Tätigkeit für das US-Verteidigungsministerium bereiste die die Sowjetunion. Sie hatte schon verschiedene Kurzgeschichten publiziert, und als sie im Jahr 2000 mit ihrer Familie nach Dallas, Texas, zurückkehrte, fasste sie den Entschluss, hauptberuflich zu schreiben.
2008 erschien ihr erster Roman „The Heretic Daughter“, der ein Bestseller wurde. Es ist ein historischer Roman wie auch die beiden folgenden Titel „The Traitor’s Wife“ und „The Outcasts“. „Meine erste Liebe galt immer den historischen Romanen“, schreibt Kathleen Kent auf ihrer Homepage, „aber als ich gebeten wurde, eine Kurzgeschichte für die zeitgenössische Krimianthologie ,Dallas Noir’, beizusteuern, war ich von der Hauptfigur, Detective Betty Rhyzyk, so fasziniert, dass ich die Geschichte zu einem ganzen Roman weiterentwickelte.“ Dieser, «The Dime» (2017), erschien 2021 als erstes Buch von Kent auf Deutsch: «Die Tote mit der roten Strähne». Zwei Jahre später erschien die Fortsetzung „The Burn“, die ebenfalls für den Edgar nominiert wurde, und mit „The Pledge“, der im November 2021 erscheint, wird Detective Betty definitiv zur Serienheldin. Im Februar 2023 veröffentlichte sie den Spionagethriller „Black Wolf“.
Kathleen Kent lebt in Dallas, Texas.