Ein Mittelsmann auf dem Weg in die Hölle
Der erste Satz
Das einzig interessante in der Post an diesem Morgen war der Räumungsbescheid für meine Mietwohnung.
Krimi der Woche ∙ N° 39/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger
Die Erstausgabe der „Naturalis Historia“, der „Naturgeschichte“ des römischen Gelehrten Plinius aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, war als Leihgabe eines zeitweise reichen Mannes in der Kongressbibliothek in Washington. Dann wollte die Erbin das äusserst wertvolle Buch zurück, da sie in Geldnöten steckt. Sie schickte den befreundeten Privatdetektiv Jack Marsh, um das Buch an der Ostküste abzuholen und nach Kalifornien zu bringen. Doch Marsh und das Buch verschwanden spurlos. Offenbar wurde der Detektiv entführt, und die Entführer verlangen nun für den Mann und vor allem für das Buch 250'000 Dollar. Hier kommt Philip St. Ives ins Spiel, ein professioneller Mittelsmann, ein „Go-Between“, wie die Amerikaner sagen.
St. Ives, ein Spieler, Frauenheld, Dandy, ist der Held von fünf Romanen, die der legendäre amerikanische Politthriller-Autor Ross Thomas (1928–1995) zwischen 1969 und 1976 unter dem Pseudonym Oliver Bleeck veröffentlichte. Der Fall mit dem verschwundenen Plinius-Wälzer ist der letzte davon. Er ist damals unter dem Titel „Schreie im Regen“ auch auf Deutsch erschienen, allerdings in einer gekürzten Fassung. Im Rahmen der Werkausgabe von Ross Thomas im Berliner Alexander Verlag ist „No Questions Asked“, so der Originaltitel, jetzt unter dem Titel „Keine weiteren Fragen“ in neuer Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch erschienen.
Mit einem Koffer Geld von der Versicherung macht sich St. Ives in einer Winternacht mit heftigem Schneegestöber auf, den Plinius zurückzukaufen. Doch die Übergabe läuft schief. Das Geld ist weg. Das Buch ebenfalls. Und eine Leiche liegt im Schnee. Doch Philip St. Ives bleibt an dem Fall dran, denn wenn er das Buch und das Geld wiederbeschafft, will die Versicherung ihn fürstlich bezahlen. Und Geld braucht er immer. Doch die Geschichte nimmt ein paar unerwartete Wendungen.
Dies ist gewiss nicht eines der Meisterwerke von Ross Thomas. Zu diesen zählen sein Erstling „Kälter als der kalte Krieg“ von 1966, dann „Umweg zur Hölle“ von 1978, „Dornbusch“ von 1984, sein letzter Roman „Die im Dunkeln“ von 1994 und vor allem „The Fools in Town Are on Our Side“ von 1970, der in der deutschen Werkausgabe noch aussteht. Aber auch „Keine weiteren Fragen“ hat die Qualitäten, die typisch sind für den Autor: nüchtern-lakonischer Erzählstil, knackige Dialoge, trockener Humor. Und der ironische Blick auf Stil und Stimmung der jeweiligen Zeit. Und die ernsthaften Avancen von Frauen hält St. Ives für „ehrlich und aufrichtig und von den besten Absichten inspiriert, mit denen, wie allgemein bekannt, der Weg in die Hölle gepflastert ist“.
Wertung: 3,8 / 5
Ross Thomas: Keine weiteren Fragen
(Original unter dem Pseudonym Oliver Bleeck: No Questions Asked. 1976;
eine gekürzte deutsche Ausgabe erschien 1976 unter dem Titel Schreie im Regen)
Aus dem Englischen von Henner Löffler und Gisbert Haefs.
Alexander Verlag, Berlin 2021. 247 Seiten, 14,99 Euro/ca. 20 Franken
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Ross Thomas,
geboren 1926 in Oklahoma City, gestorben 1995 in Santa Monica, Kalifornien, war im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf den Philippinen. Er arbeitete unter anderem als Journalist in den USA, in Deutschland und in Nigeria. In den 1950ern baute er in Bonn das Büro des amerikanischen Radiosenders AFN auf. Später war er PR- und Wahlkampfberater für Politiker wie Lyndon B. Johnson sowie Gewerkschaftssprecher.
Erst mit 40, nach jahrelangen intimen Einblicken in den Politbetrieb, begann er mit dem Schreiben von Politthrillern. Für seinen ersten Roman „The Cold War Swap“ („Kälter als der kalte Krieg“) wurde er 1967 mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Erstling ausgezeichnet; einen weiteren Edgar erhielt er 1985 für „Briarpatch“ („Dornbusch“). Von 1966 bis 1994 schrieb Thomas 25 Politthriller und Kriminalromane, darunter unter dem Pseudonym Oliver Bleeck fünf Romane um den „Go-Between“ Philip St. Ives. Ab 1982 schrieb er auch Drehbücher für TV-Serien.
Alle Romane von Ross Thomas, die ursprünglich auf Deutsch oft nur stark gekürzt herausgegeben wurden, erscheinen seit 2005 im Berliner Alexander Verlag in einer originalgetreuen deutschen Werkausgabe. Der jetzt neu erschienene Roman „Das Procane-Projekt“ ist der 22. Band dieser verdienstvollen Werkausgabe.
Von 1975 bis zu seinem Tod als Folge von Lungenkrebs zwei Monate vor seinem 70. Geburtstag lebte Ross Thomas mit seiner zweiten Frau im Strandort Malibu bei Los Angeles.