Die Tote im See
Der erste Satz
Einmal habe ich dich gesehen.
Krimi der Woche ∙ N° 36/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger
Die elfjährige Tessie wird wenige Tage nach ihrem Verschwinden ermordet in einem Park gefunden. Wenig später wird Cleo Sherwood, eine junge Frau, die vor mehreren Monaten verschwunden ist, tot im See gefunden. Der erste Fall macht Schlagzeilen. Der zweite nicht. Der Teenager ist weiss. Die junge Mutter von zwei Kindern, die in einer zwielichtigen Animierbar arbeitete, ist schwarz. Maddie Schwartz, die eben als Assistentin bei einer lokalen Zeitung angeheuert hat, versteht nicht, warum die Schwarze weniger interessant sein soll. Obwohl sich auf der Redaktion niemand dafür interessiert, geht sie Cleos Schicksal nach.
Die amerikanische Autorin Laura Lippman hat ihren Roman „Lady in the Lake“, der jetzt unter dem unattraktiven Titel „Wenn niemand nach dir sucht“ auf Deutsch erschienen ist, im Jahr 1966 angesiedelt. Sie lässt Maddie Schwartz aus ihrem geordneten jüdischen Familienleben ausbrechen: Die 37-Jährige verlässt ihren Mann, einen erfolgreichen Anwalt, und ihren Sohn, um ihr eigenes Leben zu leben. Sie will Journalistin werden. Statt im stattlichen Haus in der Vorstadt lebt sie in einer kleinen Wohnung in der Stadt. Bald steckt sie in einer stürmischen Affäre mit einem schwarzen Streifenpolizisten. Die muss aber geheim bleiben.
Laura Lippman, die vor allem durch ihre Serie mit Tess Monaghan, Privatdetektivin in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland, bekannt ist, hat für ihren bisher besten Roman eine spezielle Struktur gewählt: Die aus der Perspektive von Maddie in der dritten Person erzählte Geschichte wird immer wieder unterbrochen durch Kapitel, in denen Nebenfiguren als Icherzähler ihre Sicht der Dinge schildern. Während diese Figuren jeweils nur einen eigenen Auftritt haben, erscheint Cleo, die „Lady im See“, quasi aus dem Jenseits mehrmals – mit ihr beginnt und endet das Buch auch.
Das ist alles andere als ein konventioneller Kriminalroman. Im Vordergrund steht Maddies Ausbruch aus den engen Konventionen der Zeit und ihres Milieus in ein selbstbestimmtes Leben. „Sie wollte nicht die Frau von irgendwem sein“, heisst es einmal. „Sie liebte ihr Leben.“ Die Rolle der Frauen in den Sixties und Sexismus sind ebenso Themen des Romans wie Rassismus. Dies aber nicht mit wohlfeilen Parolen, sondern mit teils akkuraten Details. Beispielsweise hatten die schwarzen Streifenpolizisten im Gegensatz zu ihren weissen Kollegen keine Funkgeräte, und sie durften keine Streifenwagen fahren. Nebenbei ist der vielschichtige Krimi auch ein stimmungsvoller Zeitungsroman. Und ein differenziertes Porträt der Stadt Baltimore, in der Laura Lippman zu Hause ist.
Wertung: 3,8 / 5
Laura Lippman: Wenn niemand nach dir sucht
(Original: Lady in the Lake. William Morrow, New York 2019)
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
Kampa, Zürich 2021. 377 Seiten, 22 Euro/ca. 30 Franken
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Laura Lippman,
geboren 1959 in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, kam 1965 als Kind mit ihrer Familie in die Stadt Baltimore im US-Bundesstaat Maryland, wo sie zur Schule ging. Sie studierte dann Journalismus an der Medill School of Journalism der Northwestern University in Chicago. Danach arbeitete sie zunächst in Texas bei den Tageszeitungen „Waco Tribune-Herald“ und „San Antonio Light“, bevor sie 1989 nach Baltimore zurückkehrte, wo sie während zwölf Jahren Reporterin bei der führenden Tageszeitung „The Baltimore Sun“ war.
1997 startete sie mit „Baltimore Blues“ eine erfolgreiche Reihe von Kriminalromanen mit Tess Monaghan als Hauptfigur, einer ehemaligen Journalistin, die nun Privatdetektivin ist. Als sie 2001 ihren Zeitungsjop aufgab, erschien bereits ihr sechster Krimi; vier dieser Romane sind von 2003 bis 2005 auch auf Deutsch erschienen. Inzwischen umfasst die Reihe zwölf Titel. Der zweitneueste, „Die Frau im grünen Regenmantel“, ist 2020 ist im Zürcher Kampa Verlag erschienen, der nun auch die früheren Titel neu auflegt. Daneben hat Laura Lippmann ein Dutzend Standalones veröffentlicht, zu denen auch „Lady in the Lake“ gehört, der jetzt unter dem Titel „Wenn niemand nach dir sucht“ auf Deutsch erschienen ist. Sie ist für ihre Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Laura Lippman ist seit 2006 verheiratet mit David Simon, der ebenfalls als Journalist bei „The Baltimore Sun“ arbeitete, bevor er TV-Autor und -Produzent wurde. Er ist vor allem bekannt als Hauptautor und Produzent der Kultserie „The Wire“. Das Paar hat eine elfjährige Tochter und lebt in Baltimore.