Vom Versuch, Mensch zu werden

Der erste Satz
Ich heisse Pretty, aber ich bin nicht hübsch.

Krimi der Woche ∙ N° 35/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Ihre Erfahrungen als Angehörige der US-Army im Golfkrieg und die Lehren aus ihrem eher komplizierten Leben davor und danach machen Sarah Jane Pullman zu einer guten Polizistin. Das spürt Cal Phillips, selbst Veteran eines „dieser Kriege, über die keiner mehr redet“. Cal ist der Sheriff in Farr, einem Kaff irgendwo im Südwesten der USA. Er stellt Sarah Jane ohne weitere Abklärungen sofort als seine Stellvertreterin ein.

Bis es so weit ist, erzählt uns die Titelfigur des neuen Romans „Sarah Jane“ des grossen amerikanischen Noir-Autors James Sallis von ihrem Leben davor. Von der Hühnerfarm ihrer Eltern, dem Wüstenkrieg, ihrer Arbeit als Köchin nach der Rückkehr vom Golf, von ihrem späten Studium, ihrer Flucht aus der desaströsen Ehe mit einem gewalttätigen Polizisten. Ihr Leben wirkt immer improvisiert, und wenn es schwierig wird, zieht sie weiter. Bis sie schliesslich in Farr landet.

„Ich schätze, hier beginnt nun die eigentliche Geschichte“, heisst es nach einem knappen Drittel des schlanken Romans. Dann beginnt ihre Arbeit als Polizistin. Sie kümmert sich um alltägliche Sachen im Ort. Sie besucht regelmässig eine Frau im Altersheim. Sie räumt nach einem Suizid auf. Das Kleinstadtleben zeigt ihr, wie banal und gleichzeitig komplex der Alltag sein kann. Sie sieht Geschichten wie ihre eigene: Geschichten von Verlust, von Gewalt, von der Abwendung von Gewalt.

 „Eines Morgens wachte ich auf und starrte die verblichenen Bambussprossen auf der Tapete an, ging dann in die Küche, um nach Kaffee zu suchen, und stellte fest, dass ich amtierender Sheriff war.“ Cal ist verschwunden. Der Sheriff hatte immer eher gelassen gewirkt, doch die Suche nach ihm offenbart, dass er im Stillen ein desperates Leben gelebt hat. Er bleibt unauffindbar. Dass er sich einmal telefonisch bei ihr gemeldet hat, sagt Sarah Jane nicht weiter. Ihr eigenes Leben hat inzwischen ebenfalls das Interesse von Ermittlern geweckt, die dem ungeklärten Angriff auf einen Polizisten nachgehen, der nach Monaten im Koma nun gestorben ist.

James Sallis ist der Philosoph unter den Noir-Autoren. Um Konventionen des Krimigenres kümmert es sich nicht. Seine Geschichte geht unter die Haut, auch wegen all der Erkenntnisse, die er beiläufig einstreut, wie: „Die meisten Dinge, die Menschen tun, bleiben ein Rätsel. Vielleicht, um es nicht zu kompliziert zu machen. Einen äusseren Schein zu wahren. Was du siehst, ist alles, was da ist.“ Oder: „Jeder Roman, jedes Gedicht ist immer dieselbe Geschichte, die wir uns wieder und wieder erzählen. Wie wir versuchen, wirklich Mensch zu werden und es doch nicht schaffen.“ Auch „Sarah Jane“ handelt davon.

Wertung: 4,2 / 5

James Sallis: Sarah Jane
(Original: Sarah Jane. Soho Press, New York 2019)
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
Liebeskind, München 2021. 218 S., 20 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Karyn Sallis

James Sallis,

geboren 1944 in Helena im US-Bundesstaat Arkansas, begann schon während dem Studium der Literaturwissenschaften an der Tulane University in New Orleans und an der University of Texas in Austin in den 1960er Jahren zur schreiben und erste Texte zu veröffentlichen. Sein Interesse galt zunächst dem Science-Fiction-Genre.

Als ausgebildeter Atemtherapeut arbeitete er in Intensivstationen in verschiedenen Kliniken. Mit dem Freund und Kollegen Michael Moorcock gab er in Ende der 1960er ein Science-Fiction-Magazin heraus. Er übersetzte Werke des französischen Dichters Raymond Queneau und des Russen Alexander Puschkin ins Englische. Unter anderem war er auch als Musiker, Musiklehrer, Drehbuchautor, Lektor und Literaturkritiker tätig.

Sein erstes Buch war 1970 eine Sammlung von Kurzgeschichten. Mit seinem ersten Roman „The Long-Legged Fly“ (Deutsch: „Die langbeinige Fliege“) wurde er 1992 berühmt. Es war der erste Band einer sechsteiligen Reihe um den schwarzen Amateurdetektiv Lew Griffin. 2001 veröffentlichte Sallis auch eine Biografie von Chester Himes, dem bedeutendsten afroamerikanischen Krimiautor. 11 der 18 Romane von Sallis, der für sein Werk vielfach ausgezeichnet wurde, sind auch auf Deutsch erschienen. Am bekanntesten dürfte der grossartige Fluchtfahrer-Thriller „Drive“ (Deutsch: „Driver“) sein, der von Nicolas Winding Refn mit Ryan Gosling in der Hauptrolle verfilmt wurde.

Sallis ist seit seinen jungen Jahren auch als Musiker tätig, unter anderem war er Steel-Gitarrist in verschiedenen Countrybands in Texas. Neben Steel-Gitarre spielt er Dobro, Banjo, Gitarre, Mandoline und Fiddle. Seine musikalische Liebe gilt insbesondere dem Country-Blues und dem Bluegrass. Diese Musik spielt er auch im Trio Three-Legged Dog, das er mitgegründet hat. Er lebt mit seiner zweiten Frau, Karyn Sallis, in Phoenix im US-Bundestaat Arizona, wo er am Arizona College Kreatives Schreiben lehrt.


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