Die Prophezeiung von Gewalt
Der erste Satz
Der erste Mensch, dem ich in Eden-Olympia begegnete, war ein Psychiater, und in mancherlei Hinsicht erscheint es nur logisch, dass mein Führer durch diese »intelligente« Stadt in den Hügeln oberhalb von Cannes sich als Spezialist für psychische Störungen erweisen sollte.
Krimi der Woche ∙ N° 12/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Im Hinterland von Antibes an der Côte d’Azur gibt es den Technologie- und Wissenschaftspark Sophia Antipolis, benannt nach dem griechischen Wort für Wissen (Sophia) und der antiken Bezeichnung von Antibes (Antipolis). Er wird in Frankreich gerne als so etwas wie ein französisches Silicon Valley gesehen. Seit den 1970er Jahren hat sich Sophia Antipolis zu einer Art Retortenstadt entwickelt: In rund zweitausendfünfhundert Firmen arbeiten gegen vierzigtausend Menschen aus mehr als achtzig Ländern. Bedeutende Weltkonzerne wie Accenture, Bosch, Cisco, Dow, Hewlett-Packard, Hitachi, Huawei, IBM, Intel, SAP und Toyota haben hier Niederlassungen.
Mit seiner langjährigen Partnerin Claire Walsh hat der englische Schriftsteller J. G. Ballard (1930–2009) gerne an die Côte d’Azur Ferien gemacht, und sie hat ihn auf einer Reise auf Sophia Antipolis aufmerksam gemacht, das ihn zum fiktiven Businesspark Eden-Olympia in seinem Roman „Super-Cannes“ inspirierte. Super-Cannes heisst ein Hügel hinter Cannes; in dieser Gegend liegt der Businesspark in Ballards im Original vor fünfundzwanzig Jahren erschienenen Roman, der erst jetzt, gut fünfzehn Jahre nach dem Tod des Autors, auf Deutsch vorliegt.
Nach Eden-Olympia schickt Ballard den leicht exzentrischen Paul Sinclair als Erzähler. Er hat nach einem Unfall mit einem Kleinflugzeug gesundheitliche Probleme um begleitet seine junge Frau Jane an die Côte, die einen Job als Ärztin in Eden-Olympia antritt. Sie begeistert sich schnell für die moderne Gesundheitskontrolle, die ihrem Mann eher als totalitäre Überwachung erscheint: „Jeden Morgen nach dem Aufstehen loggen sich die Leute in der Klinik ein und übermitteln ihre Gesundheitsdaten: Puls, Blutdruck, Gewicht usw. Ein kleiner Pieks in den Finger, ausgeführt von einem kleinen Scanner, und schon analysieren die Computer hier alles andere: Leberwerte, Cholesterinwerte, Prostatamarker, einfach alles.“
Während Jane in ihrer Arbeit aufgeht, beschäftigt sich Paul mit dem Ereignis, dass seiner Frau den Job beschert hat: Ihr Vorgänger David Greenwood, den sie aus einer Klinik in London kannte, hat in Eden-Olympia mehrere Kollegen und Freunde und schliesslich sich selbst erschossen. Je länger Paul dem Massaker mit zehn Toten nachgeht, mit Zeugen und mit Freunden von Doktor Greenwood spricht, umso mehr zweifelt er an der offiziellen Darstellung des Ablaufs der Ereignisse am tödlichen 28. Mai.
Er stösst auch auf andere seltsame Ereignisse in diesem isolierten Ort, an dem der Sicherheitsdienst allgegenwärtig scheint und wo der Psychiater Wilder Penrose offenbar die Fäden zieht. „Das Wichtigste ist“, gesteht Penrose Paul einmal, „dass die Bewohner Eden-Olympias glauben, sie überwachen sich selbst.“ Paul spürt bald, dass über den schicken Swimmingpools und gepflegten Rasenflächen „die Prophezeiung von Gewalt“ schwebt: „In Eden-Olympia blühte das Verbrechen, ohne dass die Bewohner sich ihrer Täterschaft überhaupt bewusst waren oder verstanden, was sie zu ihren Verbrechen motivierte.“
Die hochbezahlten „Mitglieder der neuen Elite“ in Eden-Olympia gehen offenbar düsteren Nebenbeschäftigungen nach. Paul stösst auf einen Sumpf von Drogen, Kinderpornografie und brutaler Gewalt faschistischen Zuschnitts. Warum glauben die Topmanager, dass sie damit durchkommen, fragt er sich. Frances, die Ex-Freundin von Greenwood, die zu Pauls Begleiterin wird, meint: „Sie wissen, dass die Welt ohne sie zusammenbräche und glauben daher, sie können sich alles erlauben.“
Ballard nimmt uns in „Super-Cannes“ mit auf eine Geisterbahnfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele. Streckenweise wirkt der Roman wie eine bitterböse Satire auf die moderne Businesswelt, die in der heutigen Welt, in der das Verhalten von Typen wie Trump, Musk & Co. erschreckend schnell zu einer neuen Normalität wird, gar nicht mehr so surreal wirkt wie damals, als Ballard diese Visionen zu Papier brachte.
Als Zugabe gibt es die für Ballard typische Sprache, die mit allerlei einzigartigen Assoziationen gespickt ist und damit allein schon Unterhaltungswert hat. Zum Beispiel:
Während die Prostituierten sich in einer Kreolsprache aus Französisch und Arabisch unterhielten, wehte ihr Duft zu meinem Tisch herüber, ein von der Nachtwelt der Croisette evozierter Huris-Traum von Paradiesjungfrauen – unversteuertes Schmuggelgut der Sinne im willfährigen Freihafen des Zufalls und des Begehrens.
Oder:
Auf der anderen Seite der Bucht von La Napoule verhüllte Abendnebel die Croisette, so dass es aussah, als schwebten die schwarzen Brüste der schönen Otéro über dem Carlton Hotel wie eine auf einem duftigen Seidenkissen feilgebotene Gabe eines Paschas.
Wertung: 4 / 5
J. G. Ballard: Super-Cannes
(Original: Super-Cannes. Flamingo, London 2000)
Aus dem Englischen von Helma Schleif
Diaphanes, Berlin 2025. 480 Seiten, 25 Euro/ca. 36 Franken
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Bild: goodreads.com
J. G. (James Graham) Ballard,
geboren 1930 in Shanghai, gestorben 2009 in Shepperton in der englischen Provinz Surrey, wuchs in der internationalen Siedlung in Shanghai auf, wo sein Vater als Chemiker die Niederlassung einer britischen Textilfirma leitete. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde die Siedlung von Japan besetzt und Zivilisten aus Staaten der Allierten wurden ab 1943 interniert. Ballards Familie wurde zwei Jahre lang bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einem japanischen Gefangenenlager festgehalten. 1946 brachte die Mutter James Graham nach England, wo sie ihn in Obhut der Grosseltern gab, während sie zu seinem Vater nach Shanghai zurückkehrte.
Am Kings College in Cambridge begann Ballard 1949 ein Medizinstudium; er wollte Psychiater werden. Nachdem er 1951 eine erste Erzählung veröffentlichte, wechselte er an das Queen Mary College in London, um englische Literatur zu studieren. Nach einem Jahr verliess er die Uni und arbeitete unter anderem als Werbetexter. Er schrieb weiter Geschichten, fand aber keinen Verlag dafür. 1954 ging er zur Royal Air Force, wo er sich auf einer Basis in Kanada den Traum vom Fliegen erfüllen konnte. Nachdem er die Airforce verlassen hatte, konnte er ab 1956 Science-Fiction-Geschichten in Zeitschriften veröffentlichten, und er arbeitete unter anderem als Redakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift für Chemie. Er war auch künstlerisch tätig und stellte in den Fünfzigern Collagen im Stil der Pop Art aus.
Von 1961 bis 2006 veröffentlichte er rund zwanzig Romane, mit denen er bald weltberühmt wurde, darunter etwa „The Drowned World“ (1962; „Die Flut“), „Crash“ (1973; verfilmt von David Cronenberg), „Concrete Island“ (1974; „Betoninsel“), „High-Rise“ (1975; verfilmt von Ben Wheatley) und „Empire of the Sun“ (1984; verfilmt von Stephen Spielberg). Ballard habe in den späten 1950er-Jahren als Science-Fiction-Autor begonnen, schreibt der Diaphanes Verlag, der Ballards Werk auf Deutsch pflegt, „ging aber schon sehr bald andere Wege, da die Zukunft für ihn nicht im »outer space«, sondern im »inner space« lag“. Er habe „Romane über die Auswirkungen technologischer und architektonischer Entwicklungen auf die Gesellschaft, mit denen er seiner Zeit immer weit voraus war“, geschrieben. Er gilt als einer der bedeutenden englischen Schriftsteller seiner Generation.
Ballard war verheiratet, er hatte mit seiner Frau Mary drei Kinder. Ab 1960 lebte die Familie in Shepperton. Mary starb 1964 an einer Lungenentzündung, und J. G. Ballard zog die Kinder allein auf. Die im Verlagswesen tätige Claire Walsh, die auch Ideengeberin für Romane von Ballard war, wurde später seine Partnerin. 2006 wurde bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert, der drei Jahre später zu seinem Tod führte.