Hinterhältige Zicken und ein toter Nationalgardist

Der erste Satz
„Es ist was passiert Addy. Ich glaube, du kommst besser her.“

Krimi der Woche ∙ N° 21/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Ein Cheerleader-Roman – echt jetzt? Echt! Und was für einer! Virtuos verbindet Megan Abbott in ihrem Bestseller „Dare Me“ aus dem Jahr 2012, der jetzt als „Wage es nur!“ endlich auf Deutsch vorliegt (unter dem gleichen Titel ist der Stoff als 10-teilige TV-Serie bei Netflix zu sehen), eine dramatische Coming-of-Age-Geschichte und eine dubiose Kriminalgeschichte zu einem düsteren Psychothriller.

Schauplatz ist die Sutton Grove High School, das Personal besteht vorwiegend aus den Mädchen der Cheerleader-Truppe. Die sechzehnjährige Adelaide „Addy“ Hanlon ist der „Lieutenant“ von Cheer-Captain Beth Cassidy und die Icherzählerin. Beth, die „wie ein verseuchtes Rotkäppchen“ ständig durch das Leben der anderen schleicht, wie es einmal heisst, weiss alles über alle, und setzt das bei Bedarf hemmungslos ein. Sie hat die Truppe im Griff. Bis Colette French als neue Trainerin kommt. Mit dem Hintern wackeln und mit Pompons fuchteln reicht ihr nicht, mit gewagten Stunts soll die Truppe wettkampftauglich werden. Und sie findet, es brauche keinen Captain und setzt Beth ab. Deren Freundin Addy ist fasziniert von Coach Colette, freundet sich mit ihr an. Schon im vergangenen Cheer-Sommercamp hat ihre Loyalität gegenüber Beth gelitten, jetzt bewegt sie sich weiter weg von der langjährigen besten Freundin.

Auch ohne den im Prolog platzierten Hinweis darauf, dass etwas Schreckliches passieren wird, herrscht eine latent bedrohliche Atmosphäre im Kreis der Cheerleader. Im Training werden nicht nur Körper verletzt, sondern auch Gefühle. Eifersucht und Verrat, Manipulation und Intrigen sind an der Tagesordnung. Die jüngsten Mädchen sind teils noch naiv, die älteren im besten Fall zickig, oft aber auch hinterhältig. Und wenn sich Teenager langweilen, kann es gefährlich werden, weiss Coach Colette. Dabei werden sie auch noch von den üblichen Mühen und Unsicherheiten des Aufwachsens geplagt: „Wir wollen Dinge, die wir nicht verstehen. Dinge, die wir nicht einmal benennen können. Tiefe Sehnsucht, als hätten unsere Herzen Schwungfedern.“

Das Interesse der Mädchen weckt auch der kantige Sergeant der Nationalgarde, der an der Schule Nachwuchs rekrutiert. „Sämtliche Mädchen werfen sich ihm an den Hals, aber er blinzelt nicht einmal. Er lächelt, doch sein Lächeln ist kein richtiges Lächeln, sondern das, was man mit dem Mund tut, wenn man weiss, dass alle zuschauen.“ Doch dann ertappen Beth und Addy ihren Coach, verheiratet und junge Mutter, beim Sex mit Sarge Will. Wenig später ist der Nationalgardist tot.

Es ist von einem Suizid die Rede. Doch Beth will Addy einreden, dass Coach Colette ihn erschossen habe. Addy will herausfinden, was wirklich geschehen ist, und das scheint ihr gut zu tun: „Ich habe überhaupt keine Angst, irgendwie treibt mich dasselbe Hochgefühl an wie bei einem Spiel, wie nach zu viel Slim-FX-Fatburner und nichts zu essen ausser zuckerfreiem Wackelpudding, damit du die Lücke zwischen deinen Oberschenkeln zurückbekommst. Das Gefühl ist spektakulär.“

Solche Passagen demonstrieren eindrücklich, wie sich Megan Abbott in die Psyche der jungen Frauen einfühlen und die Befindlichkeiten scheinbar locker auf den Punkt bringen kann. Sie ist ganz einfach eine grossartige Erzählerin; schon nach wenigen Seiten entwickelt die Geschichte einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Dazu tragen auch ihre plastischen Schilderungen bei. Etwa wenn es um einen älteren Schüler und ein Freshman-Mädchen geht, „die in irgendeiner entlegenen Ecke flüchtige Schmutzigkeiten miteinander anstellen, sein Arm unter ihr Shirt gerammt, ihren babyfetten Mädchenbauch hinauf, ihre Augen aufgerissen von Panik und Aufregung, während sie im Kopf bereits übt, wie sie von diesem Moment erzählen wird, obwohl ihr der Moment schon entgleitet“.

Dass sich dieser ebenso aussergewöhnliche wie aufregende Kriminalroman auch auf Deutsch so toll liest, ist der stimmigen Übersetzung von Karen Gerwig zu verdanken. Und natürlich Megan Abbotts prägnanten und anschaulichen Beschreibungen; so etwa über die Umkleide der Cheerleader vor dem grossen Auftritt: „Die Luft ist geschwängert von Schmerzgel und Tigerbalsam, von Haarspray und dem süssen Kokosduft gelbbrauner Körpersprays. Man kommt sich vor wie in einem weichen Kokon aus Zucker und Liebe.“

Wertung: 4,7 / 5

Megan Abbott: Wage es nur!
(Original: Dare Me. Reagan Arthur Books, New York 2012)
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
Pulp Master, Berlin 2024. 342 Seiten, 16 Euro/ca. 24 Franken

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Bild: Drew Reilly

Megan Abbott,

geboren 1971 in Detroit, Michigan, wuchs in Grosse Pointe auf, einem Vorort von Detroit, und studierte an der University of Michigan. An der New York University promovierte sie in englischer und amerikanischer Literatur. An der NYU unterrichtete sie in der Folge auch, ebenso an der State University of New York und an der New School University ebenfalls in New York.

Als Kind faszinierten sie Filme aus den 1930er und 1940er Jahren, die sie in einem Kino in Grosse Pointe sah. Diese weckten ihr lebenslanges Interesse an Crime Fiction. Ihre ersten Romane waren denn auch stark beeinflusst vom klassischen Film noir, während spätere Werke eher Psychothriller sind. Sie debütierte 2005 mit „Die a Little“. Bisher hat sie ein Dutzend Romane veröffentlicht, zuletzt „Beware the Woman“ (2023). „The End of Everything“ (2011) erschien auch auf Deutsch: „Das Ende der Unschuld“ (Kiepenheuer & Witsch, 2012).

Dank dem auf Noir-Kriminalliteratur spezialisierten kleinen Berliner Verlag Pulp Master erscheinen nun mehrere Werke der mehrfach preisgekrönten Autorin endlich auf Deutsch. Den Anfang machte Verleger Frank Nowatzki 2023 mit dem Roman „The Turnout“ (2021) das auf Deutsch unter dem Titel „Aus der Balance“ erschienen ist. Jetzt ist „Dare Me“ (2012) unter dem Titel „Wage es nur!“ erschienen; „Queenpin“ (2007) sowie der aktuelle Roman „Hüte dich vor der Frau“ werden folgen.

Megan Abbott ist auch Drehbuchautorin und TV-Produzentin. Sie wirkte als Autorin bei der Serie „The Deuce“ mit sowie als Autorin und Produzentin bei der TV-Version ihres Romans „Dare Me“. Auch „The Turnout“ soll verfilmt werden. Sie ist zudem Herausgeberin der Frauen-Krimi-Anthologie „A Hell of a Woman“ und Autorin des Sachbuchs „The Street Was Mine: White Masculinity in Hardboiled Fiction and Film Noir“ (2002).

Abbott ist verheiratet mit dem Schriftsteller Joshua Gaylord. Sie lebt im New Yorker Stadtteil Queens.


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„Ich bin tot. Ende.“