Eine blutige Geschichte als ätzende Satire
Der erste Satz
Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört.
Krimi der Woche ∙ N° 08/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Seltsames geschieht in Money im US-Bundestaat Mississippi. Eine Frau findet in ihrem Haus ihren grausam getöteten Mann. Die Hoden sind ihm abgeschnitten worden, und sie liegen in der Hand einer anderen Leiche im Raum, eines Schwarzen. Ein verwirrendes Szenario für den Sheriff. Und dann verschwindet die Leiche des Schwarzen aus dem Leichenschauhaus. Um kurz darauf an einem neuen Tatort die Klöten eines anderen toten Rednecks in der Hand zu haben.
So beginnt der Roman „Die Bäume“ von Percival Everett. Die seltsamen Vorgänge in Money rufen Special Detectives vom Mississippi Bureau of Investigation auf den Plan. Ed und Jim, zwei Afroamerikaner, treffen in Money auf einen Haufen „dämlicher Rednecks“, wie Ed es ausdrückt. Jim korrigiert ihn: „Dämlicher Redneck ist redundant.“ Ein typisches Beispiel für die wunderbaren Dialoge in diesem ausgesprochen dialoglastigen Buch. Wenn Jim sagt, „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert“, antwortet Ed: „Ja, das erzähl mal den Arschgeigen dahinten mit den Trump-Mützen.“
Da die Gewalt eskaliert, gesellt sich schon bald die FBI-Agentin Herberta «Herbie» Hind, ebenfalls Afroamerikanerin, zu den beiden Detectives. Es stellt sich heraus, dass die Toten Nachkommen von Männern sind, die vor Jahrzehnten einen Schwarzen Jungen im Ort gelyncht hatten, weil er ein weisses Mädchen gegrüsst hatte.
„Eins gilt für jeden Weissen in diesem County: Wenn er nicht selber jemanden gelyncht hat, dann hat es jemand in seinem Stammbaum getan.“ Mama Z., die 105 Jahre alte Afroamerikanerin, die in Money lebt, sagt das nicht einfach so. Sie hat ein Zimmer voller Archivschränke, in welchen Tausende von Lynchmorden in den USA dokumentiert sind.
Der Rachefeldzug gegen Lynchmörder und deren Nachkommen beginnt sich nach und nach auf das ganze Land auszuweiten. Im Weissen Haus wird gar ein Minister getötet, und der amtierende Präsident verkriecht sich ängstlich unter seinem Pult, wo seine orangen Haare an einem Juicy-Fruit-Kaugummi kleben bleiben. Wie Zombies ziehen inzwischen Gruppen von Schwarzen, Chinesen, Indigenen usw. durchs Land, um Rache zu nehmen.
Ausgangslage von Everetts Roman ist der bekannte Lynchmord am 14-jährigen Emmett Till 1955 in Money. Der afroamerikanische Autor macht daraus eine bestechende Mischung aus Satire und Thriller mit Horrorelementen. Raffiniert bedient er sich bei den Formen populärer Genres, um Populismus und White Supremacy zu brandmarken.
„Die Bäume“ ist gleichzeitig hochkomisch und bitterböse. Ein brillantes Stück Gegenwartsliteratur, das ein äusserst vergnügliches Leseerlebnis mit tiefen Einsichten verbindet. Ein Meisterwerk.
Wertung: 4,9 / 5
Percival Everett: Die Bäume
(Original: The Trees. Graywolf Press, Minneapolis 2021)
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser, München 2023. 365 Seiten, 26 Euro/ca. 35 Franken
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Percival Everett,
geboren 1956 in Fort Gordon, Georgia, studierte an der Brown University in Providence Rhode Island. Schon während des Studiums schrieb er seinen ersten Roman, „Suder“, der 1983 erschien.
Inzwischen hat er 23 Romane veröffentlicht, dazu vier Kurzgeschichtensammlungen, sechs Gedichtbände und ein Kinderbuch. Er ist einer der bedeutendsten afroamerikanischen Autoren. In seinen Romanen wechselt er zwischen verschiedenen Genres. „God’s Country“ (1994) etwa, eines seiner bekanntesten Werke, ist ein Western; er erschien 2014 auch auf Deutsch. Ins Deutsche übertragen wurden auch „Erasure“ (2001; „Ausradiert“, 2008), „I am Not Sidney Poitier“ (2009; „Ich bin nicht Sidney Poitier“, 2014), „Telephone“ (2020; „Erschütterung“, 2022) und jetzt „The Trees“ (2021; „Die Bäume“, 2023). Everett ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, und „The Trees“ stand 2022 auf der Shortlist für den Booker Prize, einen der wichtigsten Preise für englischsprachige Literatur.
Percival Everett ist Professor für Englisch an der University of Southern California in Los Angeles. Er ist verheiratet mit der Autorin Denzy Senna und lebt mit ihr und den beiden gemeinsamen Söhnen in Los Angeles.