Hat sie oder er den Bergführer über die Klippe geschubst?

Der erste Satz
Das hier ist, könnte man sagen, die Geschichte eines Fotos.

Krimi der Woche ∙ N° 09/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Riku Onda ist in Japan eine bekannte Autorin, die sich in verschiedenen Genres bewegt, von Abenteuer und Mystery bis Science-Fiction und Horror. Sie ist vielfach ausgezeichnet worden, mehrere ihrer Bücher wurden verfilmt. International bekannt, zunächst im englischen Sprachraum, wurde sie erst unlängst durch den aussergewöhnlichen Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“, der 2022 auch im deutschsprachigen Raum Furore machte. Darin umkreiste sie den Giftmord an 17 Menschen während einer Familienfeier, indem sie den Fall in jedem Kapitel aus dem Blickwinkel einer anderen Person, die näher oder entfernter mit dem Ereignis oder mit Beteiligten zu tun hatte.

Ebenfalls mit wechselnden Perspektiven spielt Riku Onda in ihrem zweiten ins Deutsche übertragenen Roman. Doch in „Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen“ ist die Struktur einfacher: Der Blickwinkel wechselt zwischen nur zwei Personen hin und her. Beide verdächtigten den anderen eines Mordes.

Die Geschichte spielt in einer einzigen Nacht in Tokio. Eine Frau und ein Mann treffen sich zum Abschluss ihrer Beziehung noch einmal in ihrer bereits leergeräumten Wohnung. Ein grosser Koffer, der noch in der Wohnung ist, dient als Tisch für Essen und Getränke, während sie auf Tatamimatten sitzen und sich unterhalten.

Die Beziehung zwischen Aki und Hiro driftete auseinander, nachdem bei Wanderferien in den Bergen ihr Führer über eine Klippe gestürzt war und dabei getötet wurde. Für den letzten gemeinsamen Abend hat sich Hiro vorgenommen, sie dazu zu bringen, zuzugeben, dass sie den Mann ermordet hat. Aki dagegen verdächtigt seitdem es passiert ist ihn, etwas mit dem Tod des Mannes zu tun zu haben. Beide wollen vom anderen in dieser Nacht ein Geständnis, die Mörderin bzw. der Mörder des Mannes zu sein, mit dem sie in eine besondere Beziehung verbunden hatte.

„Seit einem Jahr verfolgt uns dieser Tag, hat Tempo aufgenommen und ist immer näher gekommen“, ist sich Aki im Klaren. „Jetzt hat er uns erwischt.“ Vorsichtig nähern sich beide dem Thema, umkreisen es in immer enger werdenden Schlaufen. Obwohl dabei nicht wirklich etwas passiert, wächst die Spannung, die durch die fast klaustrophobisch wirkende Situation zusätzlich verschärft wird. „Der heutige Abend wäre die perfekte Gelegenheit, mich verschwinden zu lassen“, weiss Aki.

Der kammerspielartige Psychothriller fesselt nicht durch den Fall des toten Bergführers, denn wir wissen schon von Anfang an, dass das Paar sich gegenseitig verdächtigt. Es sind die Lebensgeschichten der beiden (auf die ich hier nicht näher eingehe, um nicht zu spoilern), das gegenseitige Misstrauen und die Angst, was der andere tun würde, wenn seine Untat ans Licht käme, die faszinieren. Daneben erfreut uns Onda mit Einblicken in die japanische Seele und mit philosophischen Betrachtungen, wie jener, die zum poetischen Titel führt und als Metapher für die Gedankenwelt der Protagonisten gelesen werden kann. „Unter dem gesprenkelten Sonnenlicht zappeln Fische in dem tiefen Becken mit dunkelgrünem Wasser. Gelegentlich steigen sie mit einem Flossenschlag an die Oberfläche, aber es ist unmöglich, sie klar zu erkennen zu zählen.“

„Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen“ ist nicht so komplex wie „Die Aosawa-Morde“ und auch weniger verblüffend, aber allemal eine bereichernde Lektüre.

Wertung: 4 / 5

Riku Onda: Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen
(Original: 木洩れ日に泳ぐ魚 /Komorebi Ni Oyogu Sakana. Bungeishunjū, Tokio 2007)
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium Verlag, Zürich 2023. 240 Seiten, 22 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Yuji Hongo

Riku Onda

ist das Autorenpseudonym von Nanae Kumagai, geboren 1964 in Aomori, aufgewachsen in den japanischen Städten Nagoya und Toyama. Sie studierte bis 1987 an der Waseda-Universität, einer der prestigeträchtigsten privaten Hochschulen Japans in Shinjuku, einem Stadtteil von Tokio. Danach arbeitete sie zunächst als Büroangestellte für eine Lebensversicherung.

1992 erschien ihr erstes Buch, „Das sechste Kind“; der Roman wurde für das Fernsehen verfilmt. Auch einige weitere ihrer Bücher wurden für das Fernsehen oder das Kino verfilmt. Für mehrere Werke erhielt sie wichtige Auszeichnungen, etwa den Yoshikawa-Eji-Preis und den Yamamoto-Shugoro-Prize. 2017 erhielt sie den Naoki-Preis für „Honigbiene und ferner Donner“ sowie den japanischen Buchhandelspreis.

„Die Aosawa-Morde“ aus dem Jahr 2005 ist ihr erstes Buch, das als Kriminalroman bezeichnet werden kann, und der erste Titel der Autorin, der ins Deutsche übertragen wurde. Das Buch wurde 2006 von den japanischen Kriminalschriftstellern mit dem Preis für den besten Roman ausgezeichnet. Die deutschsprachige Veröffentlichung wurde mit dem Deutschen Krimipreis 2022 (Kategorie international, Platz 1) auszeichnet und auf den 1. Platz der Krimibestenliste des Jahres 2022 gewählt. „Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen“ ist nun ihr zweiter Roman, der auf Deutsch erscheint.

Riku Onda lebt in Sendai in der Präfektur Miyagi. Die Grossstadt liegt auf einem schmalen Landstreifen zwischen der Pazifikküste und den Bergen.


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Eine blutige Geschichte als ätzende Satire