Sex & Drugs & Loneliness

Der erste Satz
Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet und jetzt stieg das Wasser rauschend und strudelnd über die Ufer des Grabens vor meinem Haus.

Krimi der Woche ∙ N° 07/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Für Charlotte Ford, eine junge Frau, die in Houston, Texas, als Barista arbeitet, kommt es gerade ziemlich dick. Ihr Freund macht mit ihr Schluss, nachdem er sich offenbar schon länger wieder mit seiner Ex getroffen hat. Und ihre beste Freundin, mit der sie zwar länger keinen Kontakt mehr hatte, wird nach einem Wiedersehen umgebracht. Charlotte will sich nur noch betrinken und mit Drogen zudröhnen.

Es fängt düster an und wird dann richtig schwarz im ersten Roman der amerikanischen Lyrikerin Melissa Ginsburg, der im Original schon 2016 erschienen ist: „Sunset City“ ist ein harter Noir mit poetischen Qualitäten.

Charlotte hat ihre Highschool-Freundin Danielle wieder getroffen, um sie zu warnen, dass ihre Mutter Charlotte nach ihrer Telefonnummer gefragt hat. Beziehungsweise sie mit 1000 Dollar bestochen hat, die Nummer herauszugeben. Danielles Mutter, eine skrupellose Geschäftsfrau im Immobilienbusiness, wollte ihre Tochter sehen wegen einer Erbschaftsangelegenheit. Danielle und ihre Mutter hatten schon früher ein schlechtes Verhältnis. Nachdem Danielle im Drogensumpf abgestürzt war, im Gefängnis gewesen war und seither im Pornobusiness arbeitet, hatten sie gar kein Verhältnis mehr.

Charlotte und Danielle waren beste Freundinnen in der Highschool, machten alles zusammen. Während Danielle in einer Villa mit Swimmingpool aufwuchs, lebte Charlotte bei ihrer nach Opioiden süchtigen Mutter, die nach Charlottes 18. Geburtstag an einer Überdosis starb – ob absichtlich oder nicht, weiss man nicht.

Kurz nachdem Danielle sich mit Charlotte getroffen hat und auch ihre Mutter wiedergesehen hat, wird sie in einem billigen Motelzimmer erschlagen aufgefunden. Charlotte macht sich Vorwürfe, verdächtigt die Mutter, der sie den Kontakt ermöglicht hat, des Mordes. Sie trifft sich mit Freunden und Bekannten von Danielle. Mit Audrey, mit der Danielle in Online-Pornos auftrat, mit Brandon, dem Kunstfilmer, der mit den Pornos Geld verdient. Aber auch mit dem Detective, der den Fall untersucht, und den sie sexy findet.

Alkohol, Drogen und Sex prägen diese Geschichte weitgehend. Vor allem aber auch Einsamkeit von epischem Ausmass. Charlotte hat keine Menschen, die ihr nahe sind. Sie weiss nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. „Der Asphalt erstreckte sich endlos und unausweichlich. Ich wendete auf der breiten Strasse, fuhr wieder Richtung Stadtzentrum und wünschte, es gäbe jemanden, der mir helfen könnte mir sagen würde, was ich tun sollte.“

Eher nebenbei geht es auch darum, wer denn nun Danielle getötet hat. Ist es wirklich Brandon, den die Polizei als Hauptverdächtigen sieht? Ist es doch die Mutter, die handfeste finanzielle Vorteile aus dem Tod zieht? Oder ein unbekannter Freier? Sonst jemand aus dem Umfeld? Aber „Sunset City“ ist kein simpler Whodunit, und die Lösung des Falls ist nicht das Ziel dieses Romans. Mit Whisky und Kokain verschieben die Protagonisten in der unwirtlich wirkenden Stadt Houston dunkle Gefühle auf morgen. Dann suchen sie einen mit doppelter Härte heim, sodass man schon am Morgen zur Flasche greifen muss, um den neuen Tag, der dann meist schon in der zweiten Hälfte steht, angehen zu können.

Das ist alles unglaublich trist. Aber bewegend, emotional. Dafür sorgt die Autorin auch mit ihrem wohl an der Poesie geschulten Sinn für stupende Metaphern. Etwa wenn Charlotte eine Frau beobachtet, die ein Bettlaken zu einem Quadrat mit scharfen Kanten faltet: „Ich wünsche, ich könnte mich selbst auch so sauber zusammenfalten.“

Wertung: 4,5 / 5

Melissa Ginsburg: Sunset City
(Original: Sunset City. Ecco, New York 2016)
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Mit einem Nachwort von Sonja Hartl
Polar Verlag, Stuttgart 2023. 214 Seiten, 17 Euro/ca. 25 Franken

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Bild: melissaginsburg.net

Melissa Ginsburg,

geboren 1976 in Houston, Texas, studierte Englisch an der University of Houston und schloss den renommierten Writers’ Workshop an der University of Iowa 2005 mit dem MFA ab.

Sie widmete sich zunächst in erster Linie der Lyrik. Gedichte von ihr erschienen in zahlreichen Magazinen, darunter „New Yorker“, „Southwest Review“, „Kenon Review“, „Fence“, „Image“ und „Guernica“. Sie veröffentlichte auch mehrere Lyrikbände. Sie halt als Redakteurin für verschiedene Literaturzeitschriften gearbeitet, darunter „Gulf Coat“ und „Yalobusha Review“.

2016 erschien ihr erster Roman „Sunset City“, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. „The House Uptown“ war 2021 ihr zweiter Roman.

Melissa Ginsburg ist ausserordentliche Professorin für Englisch und Kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, Mississippi, wo sie zudem Mitherausgeberin der Zeitschrift „Tupelo Quarterly“ ist. Sie lebt in Oxford, Mississippi.


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