Ein Roman, wie du ihn noch nie gelesen hast
Der erste Satz
Das Töten machte ihm schon lange nichts mehr aus.
Krimi der Woche ∙ N° 49/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Ming Tsu hat eine Mission. In einem Büchlein, das er immer mit sich trägt, hat er die Namen der Männer notiert, die er umbringen will. Sie alle haben dazu beigetragen, ihn von der Frau, die er liebt, zu trennen. Töten ist für Ming kein Problem. Als Kind wurde er von einem weissen Gangster aus dem Waisenhaus geholt und zum Killer ausgebildet. Er hat die Menschen nicht gezählt, die er im Auftrag seines Vormunds getötet hat.
Wir schreiben das Jahr 1869. Mings aktuelle Mission ist eine persönliche. Und sie soll ihm am Ende seine Frau zurückbringen. Ada hat Ming gegen den Widerstand ihres Vaters geheiratet. Als sie herausfand, dass ihr Mann ein Profikiller ist, war sie entsetzt. Ihr Vater liess Ming verprügeln und zum Eisenbahnbau in den Westen deportieren. Dort blieb der junge amerikanische Chinese aber nicht lange.
Aus dieser Exposition entwickelt der junge chinesischstämmige Amerikaner Tom Lin in seinem Debüt „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ eine furiose Geschichte. Ein Roman, wie Sie ihn noch nie gelesen haben! Der verrückte Mix aus Western, Gothic, Komik und Krimi ist zwar gewürzt mit einem Hauch von Fantasy und Lovestory, bleibt aber immer tiefdunkler Noir. Nicht nur Ming, der wie ein Chinese aussieht, aber nur Englisch spricht, erlebt Rassismus. Auch andere Aussenseiter treten in der wilden Geschichte auf.
So nebenbei arbeitet Tom Lin auch ein düsteres Kapitel der amerikanischen Geschichte auf. Die Eisenbahnlinie von Kalifornien durch Nevada nach Utah – durch Berge und Wüsten –, wurde tatsächlich, wie im Roman, von mehrheitlich chinesischen Arbeitern gebaut. Aus der entsprechenden Geschichtsschreibung wurden sie jedoch getilgt.
Hochkomisch wird die Geschichte, wenn sich Ming, der zusammen mit einem blinden alten Mann reist, der hellsichtig ist und „Prophet“ genannt wird, mit der Truppe einer „Wunder“-Show zusammentut. Er begleitet den Ringmeister und dessen Attraktionen – ein «Heide» von einer Pazifikinsel, der sich in andere Personen verwandeln kann, ein taubstummer Junge, der bauchreden kann, eine „feuerfeste“ Frau – und Bühnenarbeiter – eine Navajo-Indianer, der Erinnerungen auslöschen kann, und ein Mexikaner – eine Zeitlang als Beschützer.
Bei der beschwerlichen Reise durch atemberaubende Landschaften, die der Autor so beschreibt, dass wir sie zu spüren glauben, bleiben erheblich mehr Leichen am Wegesrand, als Namen in Mings Büchlein stehen. Obwohl er ein eiskalter Killer ist, dem das Töten nichts ausmacht, wird Ming auch durch eine eigene Moral charakterisiert. „Ich bin vielleicht ein Mörder“, sagt er einmal, als es um Verteilung des Geldes eines Toten geht, „aber ich bin kein Dieb.“
Wertung: 4,2 / 5
Tom Lin: Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
(Original: The Thousand Crimes of Ming Tsu. Little, Brown and Company, New York 2021)
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Suhrkamp, Berlin 2022. 304 Seiten, 16 Euro/ca. 24 Franken
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Tom Lin,
geboren 1996 in Beijing, kam als Vierjähriger mit seiner Familie aus China in die USA, nach Flushing im New Yorker Stadtbezirk Queens. Er studierte am Pomona College in Claremont, Kalifornien, einer traditionsreichen privaten, liberalen Hochschule.
„Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist sein erster Roman. Er wurde 2022 mit der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction ausgezeichnet. Tom Lin der ist der jüngste Autor, der diese Auszeichnung bisher bekommen hat; zu den früheren Preisträgerinnen und Preisträgern zählen Grössen wie Colson Whitehead, Donna Tartt, Jennifer Egan und Richard Ford. Eine auf dem Roman basierende TV-Serie ist in Vorbereitung.
Tom Lin lebt in der Universitätsstadt Davis im Norden Kaliforniens, wo er an der University of California (UC Davis) in englischer Literatur promoviert.