Die schlimmste Manifestation des amerikanischen Traums
Der ersten Sätze
Mein Name ist Daniel Russell. Ich träume von dunklen Wassern.
Krimi der Woche ∙ N° 47/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Es ist typisch für Joe R. Lansdale, wie er schon auf der zweiten Seite eine knochentrockene Analyse in aller Kürze auf den Punkt bringt: „Wir waren mit unserem klapprigen Buick unterwegs, der noch aus einer Zeit stammte, in der die Autos gross gewesen waren und der amerikanische Traum für jeden erreichbar schien, der weiss, männlich, heterosexuell und gewillt war, ihn zu träumen. Alle anderen mussten eine Nummer ziehen und warten.“
Der amerikanische Traum und dessen Pervertierung liefert in den meisten Werken des Altmeisters aus Osttexas, seien es nun Horrorstorys, Krimis oder historische Romane, die Grundierung der Geschichten. So auch in seinem neuen Roman „Moon Lake„“, in dem er eine wilde Geschichte in einen Mix aus Thriller, Coming-of-Age-Story und Geschichtslektion, gewürzt mit einer Liebesgeschichte und Horrorelementen, packt.
1968 ist der Icherzähler Daniel Russell 14. Die Mutter hat die Familie verlassen. Der heruntergekommene und überforderte, Vater steuert den alten Buick absichtlich in den Moon Lake. Während das Auto versinkt, kann Daniel sich befreien. Ronnie, ein gleichaltriges schwarzes Mädchen, das mit seinem Vater am Angeln ist, fischt ihn aus dem tiefen Wasser.
Der Sheriff lässt Daniel einige Wochen bei der schwarzen Familie. Hier lernt er, was Rassismus bedeutet. «Ich fühlte mich ausgetrickst. Ausgeraubt», sagt Ronnies Vater. „Nicht so, als hätte ich beim Spielen durch Pech schlechte Karten gezogen, sondern so, als hätte ich erst gar keine Karten bekommen.“ Daniel möchte bei der Familie bleiben. Doch das geht zu dieser Zeit gar nicht; er muss zu einer Tante in eine andere Stadt.
Zehn Jahre später birgt die Polizei das Auto mit den Überresten von Daniels Vater. Und den Überresten einer Frau im Kofferraum. Daniel, inzwischen ein junger Autor, reist in die Stadt am See, wo er rasch auf Ungereimtheiten stösst. Zusammen mit Ronnie, die inzwischen Polizistin ist, findet er weitere Leichen im See. Und geht den Geheimnissen dieser unheimlichen Stadt nach, die ganz in der Hand einer kleinen, despotischen Clique ist, die buchstäblich über Leichen geht. „Es waren verschrobene Verfechter der freien Marktwirtschaft und des amerikanischen Traums. Die schlimmste Manifestation dieses Traums.“
Manche erklärende Dialoge sind etwas didaktisch geraten, doch die Geschichte ist die mit Überraschungen, Action und aussergewöhnlichen Figuren gespickt. Und Lansdales witzige Metaphern machen Freude: „Ihr Lachen klang, als würde jemand einen Karton voller Teller eine Treppe runterwerfen.“ Oder: „Seine Stimme war so flach wie Kansas und so säuerlich wie alte Milch.“
Wertung: 3,7 / 5
Joe R. Lansdale: Moon Lake
(Original: Moon Lake. Mullholland Books, New York 2021)
Aus dem Englischen von Patrick Baumann
Festa Verlag, Leipzig 2022. 463 Seiten, 26,99 Euro/ca. 38 Franken
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Joe R. Lansdale,
geboren 1951 in Gladewater, Texas, ist ein erfolgreicher Autor, der in verschiedenen Genres rund 50 Romane veröffentlichte. Zunächst widmete er sich vor allem dem Horror- und dem Science-Fiction-Genre. Er ist aber auch für Western, Krimis und historische Romane bekannt. Berühmt ist seine witzige Krimireihe um Hap und Leonard, die als TV-Serie verfilmt wurde. Vier weitere Romane wurden ebenfalls verfilmt.
Lansdale ist vielfach preisgekrönt, er erhielt unter anderem elf Mal den Bram Stoker Award, wurde mit dem British Fantasy Award, dem American Horror Award, dem Edgar Award und dem World Horror Convention Grand Master Award ausgezeichnet.
Neben der Literatur beschäftigt er sich auch mit Martial Arts, Kampfkünsten. An seiner eigenen Martial-Arts-Schule in Nacogdoches, Texas, unterrichtet er ein eigenes Selbstverteidigungssystem; er wurde in die United States Martial Arts Hall of Fame und in die International Martial Arts Hall of Fame aufgenommen.
Joe R. Lansdale lebt mit seiner Frau Karen in Nacogdoches, einer Kleinstadt im Osten von Texas. Seine Tochter Kasey Lansdale schreibt ebenfalls Bücher und ist Schauspielerin und Country-Singer/Songwriterin. Sohn Keith Lansdale ist Journalist und Drehbuchautor.