Leben und Sterben in Brooklyn

Der erste Satz
„Ich war bei Suzy, als es passiert ist“, sagt Donnie Parascandolo und tritt mit dem Bier, das in seiner Hand langsam warm wird, von der Küchentheke weg.

Krimi der Woche∙ N° 16/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es ist eine kleine Welt, in der die Romane von William Boyle spielen: ein Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in dem vor allem Menschen mit Vorfahren aus Italien leben. Boyle ist in diesem Quartier aufgewachsen. Und in diesem Mikrokosmos verdichtet er in vordergründig kleinen Geschichten grundsätzliche Fragen. Es geht um Lieben und Leiden, um Kämpfen oder sich Treibenlassen, um Macht und Abhängigkeit, um Gewalt und Leidenschaft, um Leben und Sterben.

So auch in „Brachland“, Boyles viertem Roman auf Deutsch. Er ist das pure Gegenteil all dieser pseudospektakulären Thriller, in denen mindestens die halbe Menschheit vor etwas Bösem gerettet wird. Und darum ist er so gut. Denn Boyles zunächst alltäglich wirkenden Szenerien sind tiefgründig.

Am Anfang des neuen Romans steht ein Mord. Donnie Parascandolo, ein Polizist, der nebenher im Dienst eines lokalen Gangsters steht, bringt einen Mann um, dem er eigentlich nur eine Lektion hätte erteilen sollen, weil er mit seinen Schulden im Rückstand ist. „Er hat kein Problem damit, auf beiden Seiten des Gesetzes zu stehen. So gut wie kein Cop, den er kennt, ist wirklich sauber. Entweder sind sie bestechlich, oder sie langen gleich selbst in die Kasse. Die meisten kassieren Schutzgeld. Manche beteiligen sich an Versicherungsbetrug und fackeln für die Mafia irgendwelche Schuppen ab.“

Nach diesem Prolog springt die Handlung zwei Jahre weiter. Wechselnde Perspektiven geben Einblick in das Leben von gut einem halben Dutzend Menschen im Quartier. Sie alle kämpfen mit Dämonen oder Versehrungen, und sie stehen direkt oder indirekt in irgendeinem Zusammenhang mit dem zwei Jahre zurückliegenden Mord. Zwischen diesen Menschen bestehen oder entwickeln sich ganz unterschiedliche Beziehungen.

In schnörkellosem Stil, der an John Fante erinnert, den lange verkannten Meister der modernen amerikanischen Literatur, und mit vielen Bezügen zur Popkultur treibt Boyle die Handlung voran, die nach und nach bedrohlicher wird und schliesslich in tödliche Gewalt mündet. Dabei geht es nicht um Verbrechen und deren Aufklärung wie in banalen Krimis. Polizisten treten hier nur als Handlanger von Gangstern auf.

Auch wenn sich der junge Mikey Baldini – der Name erinnert sicher nicht zufällig an Fantes Protagonisten Arturo Bandini – einmal „knietief im Blut einer Scheissseifenoper“ wähnt, ist das alles andere als leichte Unterhaltung. „Brachland“ ist ein meisterhafter existenzialistischer Noir-Kriminalroman. Gnadenlos, brutal, aber auch zutiefst menschlich. Wobei ein Epilog für eine verhältnismässig versöhnliche Note sorgt.

Wertung: 4,7 / 5

William Boyle: Brachland
(Original: City of Margins. Pegasus Crime, New York 2020)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag, Stuttgart 2022. 355 Seiten, 25 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: Katie Farrell Boyle

William Boyle,

geboren 1978 im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo er auch aufgewachsen ist, studierte an der State University of New York in New Paltz. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, Mississippi.

2013 erschien sein erster Roman „Gravesend“ (Deutsch 2018 unter dem Originaltitel). Es folgte der Storyband „Death Don’t Have No Mercy“. Sein zweiter Roman „Everything Is Broken“ erschien 2017 unter dem Titel „Tout est brisé“ nur in Frankreich. Dort hatte Boyle schon mit seinem Debüt Furore gemacht: „Gravesend“ erschien 2016 in der renommierten, von Frankreichs Krimipapst François Guérif 1986 gegründeten Reihe Rivages/Noir als Band Nummer 1000. „The Lonely Witness“ (2018), Boyles dritter Roman, erschien 2019 auf Deutsch („Einsame Zeugin“), der vierte, „A Friend is a Gift You Give Yourself“ (2019) 2020 („Eine wahre Freundin“). Sein fünfter Kriminalroman „City of Margins“ (2020) ist jetzt sein vierter Titel auf Deutsch („Brachland“).

In den USA ist im letzten November „Shoot the Moonlight Out“ erschienen; der Titel bezieht sich auf einen Songtitel von Garland Jeffreys. Das ist typisch für Boyle, der sich für seine Geschichten nicht nur von Filmen, Musik und Literatur inspirieren lässt, sondern seine Romane auch mit entsprechenden Bezügen anreichert. Zudem schreibt er auch regelmässig Artikel über Filme, Musik und Literatur.

Boyle lebte in den New Yorker Stadtteilen Brooklyn und Bronx, Upstate New York im Hudson Valley und in Austin, Texas, bevor er 2012 nach Oxford, Mississippi zog, wo er mit seiner Frau und zwei Kindern lebt.


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