Ein Museum menschlicher Absonderlichkeiten
Der erste Satz
„Du bist so schön, dass ich am liebsten nach Hause fahren und meiner Frau in die Fresse schlagen würde.“
Krimi der Woche∙ N° 17/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Sehen darf man alles. Anfassen aber ist verboten. So sind die Regeln im Stripclub Lovely Lady in einem ländlichen Vorort von Chicago. Unter dem Künstlernamen Ruby tanzt Samantha schon seit längerem dort, sie ist der Star unter den Tänzerinnen. Dafür muss sie sich von Kunden Sprüche anhören wie: „Du bist so schön, dass ich am liebsten nach Hause fahren und meiner Frau in die Fresse schlagen würde.“
Zu Hause will Samantha der kleinen Tochter ihres eifersüchtigen Freundes eine gute Mutter sein. Doch eines Nachts kommt sie nicht nach Hause. Sie hat sich anerboten, eine neue, junge Kollegin, die von Drogen derart high ist, dass sie nicht mehr arbeiten kann, nach Hause zu fahren. Ihr Auto wird später in einem Straßengraben gefunden. Die Spuren sind eindeutig: Sie ist absichtlich abgedrängt worden. Die junge Frau liegt tot in der Nähe, erwürgt. Samantha ist offenbar entführt worden.
Der erste Roman für Erwachsene der erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Marie Rutkowski beginnt wie ein konventioneller „Whodunnit“. Die Suche nach dem Frauenmörder, der höchst wahrscheinlich zuvor schon tötete, zieht sich zwar durch die ganze Geschichte, doch „Real Easy“ bietet viel mehr als diese konventionelle Ebene.
Die Geschichte zeichnet schonungslos, gleichzeitig knallhart und empathisch, das Bild einer Gesellschaft, in der Frauen der Gewalt von Männern ausgesetzt oder von ihr bedroht sind. Dabei geht es, immer schlüssig eingebettet in die Handlung und nie dozierend, nicht nur um extreme Formen wie Mord, Entführung, Körperverletzung, sondern um jede Art von männlicher Machtausübung gegenüber Frauen. Also auch um sexistische und rassistische Sprüche und Verhaltensweisen. Um häusliche Gewalt. Um Benachteiligungen bei Bildung und Arbeit. Oder um den Druck des Clubbesitzers, der zwar immerhin die Finger von seinen „Künstlerinnen“, wie er sie nennt, lässt. Zumindest zu lassen scheint.
Durch geschickt eingesetzte wechselnde Perspektiven fächert Rutkoski verschiedene Lebensläufe und Schicksale auf. Vor allem die von ein paar der Tänzerinnen. Aber auch die Geschichte einer mit dem Fall befassten Polizeidetektivin, die seit dem Tod ihres Kleinkindes durch die Fahrlässigkeit ihres Ex-Mannes traumatisiert ist. Sie und ein Kollege knien sich engagiert in den Fall, daneben gibt es auch korrupte Cops in der Truppe.
So entsteht statt, wie man ob der Ausgangslage befürchten könnte, kein simpler Ermittlungskrimi, sondern ein überraschend vielschichtiger Roman, der trotz aller Brutalität immer sehr feinfühlig bleibt. Am stärksten ist die Geschichte, wenn sie bei den Tänzerinnen ist, ihrem Leben, dem Konkurrenzkampf untereinander, der wenig Raum für Freundschaften lässt. Die Autorin, die heute Professorin für englische Literatur ist, kennt diese Szene: Sie hat in jungen Jahren selbst in einem Club getanzt. Solche Erfahrungen sind harte Lehrstücke: „Ständig passiert irgendetwas. Jede einzelne Nacht ist ein Museum menschlicher Absonderlichkeiten.“
Wertung: 4,4 / 5
Marie Rutkoski: Real Easy
(Original: Real Easy. Henry Holt and Company, New York 2022)
Aus dem Englischen von Stefan Lux
Suhrkamp, Berlin 2022. 400 Seiten, 14,95 Euro/ca. 23 Franken
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Marie Rutkoski,
geboren 1977 in Hinsdale, einem Vorort von Chicago im US-Bundesstaat Illinois, wuchs als älteste von vier Geschwistern auf. Sie studierte Englisch und Französisch an der University of Iowa in Iowa City, wo sie 1999 mit dem Bachelor abschloss. An der renommierten Harvard University in Cambridge, Massachusetts, schloss sie 2003 mit dem Master in Englisch ab und doktorierte 2006.
Sie hat verschiedene wissenschaftliche Texte zu Literatur veröffentlicht. Erfolgreich ist sie seit längerem als Autorin von Büchern für Kinder und Jugendliche. Ihre romantische Fantasy-Serie „Die Schatten von Valoria“ und die Fantasy-Reihe „Die Kronos-Geheimnisse“ für Kinder sind auch auf Deutsch erschienen. „Real Easy“ ist ihr erster Roman für Erwachsene. Laut ihrer Website kennt sie die Nachtclubszene aus eigener Erfahrung als Tänzerin.
Marie Rutkoski lebte in Moskau, Prag und Paris. Heute wohnt sie mit ihrer Familie im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo sie als Professorin für englischsprachige Literatur am Brooklyn College Shakespeare, Kinderliteratur und Fiktionales Schreiben unterrichtet.