Wer tötete die Mädchen aus Mexiko?

Der erste Satz
Hier ist unser Mädchen: siebzehn, eingetroffen vor einem Jahr aus einem heruntergekommenen, staubigen Kaff in Chiapas, gilt allgemein als hübsch, weil sie blutjung ist, das Gesicht noch glatt, keine Narben oder Falten, der Körper biegsam und prall.

Krimi der Woche ∙ N° 17/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Kurz hintereinander werden in der Gegend von San Diego in Südkalifornien zwei erstochene Mädchen gefunden. Beide sind offensichtlich minderjährig und mexikanischer Herkunft. Ebenso offensichtlich wurden sie zu Sex gezwungen. Die Polizei und die ebenfalls in dem Fall tätige DEA, die nationale Drogenfahndung, ziehen für die Ermittlung Alice Vega bei, eine unerschrockene Privatdetektivin und Spezialistin für das Auffinden von verschwunden und entführten Personen. Die macht sich mit Feuereifer, unkonventionellen und immer wieder auch handgreiflichen Methoden an die Arbeit. Unterstützung holt sie sich bei ihrem Kollegen Max „Cap“ Caplan, einem ehemaligen Polizisten.

„Tote ohne Namen“ heisst der rasante Thriller der amerikanischen Autorin Louisa Luna, schon der zweite mit Vega, aber der erste, der auf Deutsch erscheint. Es ist eine ebenso knallharte wie berührende Geschichte um Menschenhandel, Drogenschmuggel und Polizeikorruption an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Tunnels unter dem Grenzzaun durch dienen nicht nur der Einfuhr von Drogen, sondern auch von Mädchen aus Mexiko als Nachschub für illegale Bordelle; je jünger die Mädchen, umso wertvoller sind sie.

Mit Alice Vega hat Louise Luna eine spektakuläre Heldin geschaffen. Eine unerschrockene und zupackende Frau, die für die richtige Sache auch vor Selbstjustiz nicht zurückschreckt. Und die mit klarem Blick die gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaut. Über die Motivation für Verbrechen sinnierend, stellt sie fest, „dass es für viele Männer nur drei Dinge gibt: Sex, Drogen und Geld. Das magische Dreieck. Jeder Mann, der ein Verbrechen begeht, tut dies, weil er an einer dieser drei Sachen interessiert ist – oder gleich an allen dreien.“ Auf Caps Frage, wie es denn bei Frauen sei, antwortet sie: „Frauen handeln aus Liebe. Alle.“

Schon von Anfang an hat Vega das Gefühl, dass die Polizisten nicht mit offenen Karten spielen. Und tatsächlich zeigt sich schon bald, dass mindestens einer der Drogenfahnder in dem Fall persönliche Interessen verfolgt. Je weiter die Geschichte fortschreitet, umso mehr steigert sich das Tempo dieses starken Romans, und das Crescendo der Gewalt ist unaufhaltsam.

Das kommt aber keineswegs verbissen daher. Luna pflegt einen angenehm trockenen Humor. „Cap kannte sie gut genug, um zu wissen, dass man sie beim Nachdenken auf keinen Fall stören durfte. Vor allem nicht mit grossen Gefühlsausbrüchen, doch eine rührselige Bemerkung konnte er sich trotzdem nicht verkneifen. ,Ich habe heute schon zweimal gedacht, dass wir nicht überleben.’ – ,Ja’, sagte Vega. ,Dabei ist es erst halb elf.’“

Wertung: 4,6 / 5

Louisa Luna: Tote ohne Namen
(Original: The Janes. Doubleday, New York 2020)
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Suhrkamp, Berlin 2021. 444 Seiten, 15,95 Euro/ca. 23 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Bertrand Roberts

Louisa Luna,

geboren 1977 in San Francisco, studierte in New York. In ihren Zwanzigern, von 2001 bis 2004, veröffentlichte sie drei Romane. Das erste Buch habe sich okay verkauft, das zweite weniger und das dritte noch weniger, sagte sie in einem Interview. „Das deprimierte mich ein wenig, und ich hörte für eine Weile auf zu schreiben.“

Erst 2012 begann sie, wieder ein Buch zu schreiben. Das habe mehr als drei Jahre gedauert, weil sie es neben einem Fulltime-Job und den Pflichten als Mutter schrieb. Das Resultat, „Two Girls Down“, der erste Roman mit Alice Vega, erschien dann 2018. Der zweite Vega-Thriller, „The Janes“, der jetzt unter dem Titel „Tote ohne Namen“ auf Deutsch erschienen ist, folgte 2020.

Zurzeit schreibt sie an einem dritten Vega-Thriller, immer noch neben ihrer Arbeit als Verwaltungsassistentin bei einem Finanzunternehmen in New York. Sie schreibe in den Pausen bei der Arbeit, unterwegs in der U-Bahn, wenn sie einen Sitzplatz ergattern könne, am Abend zu Hause und am Wochenende. „Das ist einfacher gesagt als getan“, erzählte sie in einem Interview, „meistens möchte ich am Abend lieber mit meinem Mann abhängen und Trash-TV gucken.“

Louisa Luna lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter im New Yorker Stadtteil Brooklyn.


Zurück
Zurück

Mord aus Sehnsucht nach Liebe

Weiter
Weiter

Schwarzbrenner und Saboteure am Mississippi