Schwarzbrenner und Saboteure am Mississippi

Der erste Satz
Dixie Clay stapfte am Ufer des angeschwollenen Bachs durch den schmatzenden Schlamm und verscheuchte mit ihrem Hut die Mücken, als sie einen Kindersarg im Wasser dümpeln sah.

Krimi der Woche ∙ N° 16/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es regnet praktisch ohne Unterbruch. Nicht erst seit Tagen, schon seit Wochen, Monaten sogar. Noch halten die mehr als tausendfünfhundert Kilometer Deiche die Wassermassen des mächtigen Mississippi zurück. Doch die Lage ist ernst. „Die Prediger machten ein Rekordgeschäft, die Strafe für unsere Sünden, o Gott, o Herr, erbarme Dich. Doch es gab kein Erbarmen.“

Vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe vom Frühjahr 1927 spielt der Roman „Das Meer von Mississippi“ vom Ehepaar Beth Ann Fennelly und Tom Franklin. Eine dreissig Meter hohe Flutwelle brach damals über das Land herein, überflutete eine Million Häuser auf einer Fläche fast doppelt so gross wie die Schweiz. Die Katastrophe habe nicht nur die Landschaft der US-Südstaaten dauerhaft verändert, heisst es in der Vorbemerkung zum Roman, sie habe „die amerikanische Politik und das Verhältnis zwischen den Ethnien nachhaltig“ geprägt: „Hunderttausende Afroamerikaner siedelten in den Norden des Landes um, Herbert Hoover wurde ins Weisse Haus gewählt, und ganz allgemein setzte sich die Ansicht durch, der Staat – der nichts getan hatte, um den Flutopfern zu helfen – brauche endlich eine Behörde, die Naturkatastrophen vorbeuge und Nothilfe leiste.“

Vor diesem dramatischen Hintergrund erzählen Fennelly und Franklin eine bewegende Geschichte, in deren Mittelpunkt die junge Schwarzbrennerin Dixie Clay und der Prohibitionsagent Ted Ingersoll stehen. Ingersoll ist mit seinem Vorgesetzten in der Gegend unterwegs, um das Verschwinden von zwei Prohibitionsagenten zu untersuchen. Handelsminister Herbert Hoover, der vom Präsidenten als Krisenmanager ins Hochwassergebiet geschickt wurde und die Gelegenheit nutzt, sich medienwirksam in Szene zu setzen, beauftragt sie auch, nach Saboteuren Ausschau zu halten. Solche sind unterwegs im Auftrag von Bankiers aus New Orleans, welche die Katastrophe möglichst weit nördlich ihrer Stadt halten wollen.

Ingersoll verguckt sich in Dixie Clay und merkt erst später, dass sie es ist, die den weitherum besten Whisky brennt. Und dass er sie festnehmen muss. Dann bricht der Damm, und die Ereignisse überstürzen sich.

Die Geschichte ist raffiniert aufgebaut und gekonnt erzählt, nicht nur historisch akkurat, sondern auch packend und emotional. Die Hauptfiguren sind empathisch gezeichnet, ihr Vorleben wird geschickt eingebaut. Ingersoll etwa ist in einem Waisenhaus in Chicago aufgewachsen, ist da dem Blues verfallen und war Scharfschütze im Ersten Weltkrieg. „Die Waffe war wie seine Gitarre, denn sie bezog ihre ganze Macht aus einem Loch in der Mitte. Wie Ingersoll selbst, möglicherweise.“

Wertung: 4 / 5

Beth Ann Fennelly, Tom Franklin: Das Meer von Mississippi
(Original: The Tilted World. William Morrow, New York 2013)
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Heyne Hardcore, München 2021. 384 Seiten, 22 Euro/ca. 31 Fr.

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Bild: Andy Anderson

Beth Anne Fennelly,
Tom Franklin

Beth Ann Fennelly, geboren 1971 in New Jersey, und Tom Franklin, geboren 1963 in Alabama, sind seit 1998 verheiratet.

Beth Ann Fennelly wuchs in der Gegend von Chicago auf. Sie studierte an der University of Notre Dame in Indiana, wo sie 1993 mit dem BA abschloss, an der University of Arkansas in Fayetteville, wo sie 1998 mit dem MFA abschloss, gefolgt von einem Lyrik-Fellowship an der University of Wisconsin in Madison. Sie veröffentlichte seit 1997 mehrere Gedichtbände und wurde mit zahlreichen Preisen und anderen Ehrungen ausgezeichnet.

Tom Franklin studierte an der University of South Alabama in Mobile und an der University of Arkansas in Fayetteville; das Studium finanzierte er sich mit Jobs in Lagerhäusern, Fabriken und auf einer Sondermülldeponie. Sein erstes Buch war die Story-Sammlung „Poachers“ (1999); für die Titelgeschichte wurde er mit dem bedeutenden Edgar Award für die beste Krimi-Kurzgeschichte ausgezeichnet. Sein erster Roman „Hell in the Breech“ (2003; Deutsch als „Die Gefürchteten“ 2005 bei Heyne) etablierte ihn definitiv als wichtige Stimme der Südstaatenliteratur; Franklin wird stilistisch verglichen mit Grössen wie Cormac McCarthy und Flannery O’Connor. Im deutschen Sprachraum machte er in den letzten Jahren Furore mit den unkonventionellen Kriminalromanen „Smonk“ (Original: 2006; Deutsch: 2017 bei Pulp Master) und „Crooked Letter, Crooked Letter“ (Original: 2010; Deutsch: „Krumme Type, krumme Type“, 2018 bei Pulp Master).

Fennelly und Franklin lernten sich während des Studiums in Arkansas kennen. Inzwischen haben sie drei Kinder und leben in Oxford im US-Bundesstaat Mississippi. Sie leitet an der dortigen University of Mississippi das MFA-Programm; er lehrt an der gleichen Universität kreatives Schreiben.


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