Ist die schöne Blondine etwa geklont?

Der erste Satz
Als ich Claire Gravesend das erste Mal sah, war sie schon tot.

Krimi der Woche ∙ N° 37/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler. Vor allem für den Boss einer grossen Anwaltskanzlei in San Francisco. Lee war da selbst als Anwalt tätig. Seine Karriere als Jurist endete jedoch abrupt, nachdem er einem Richter am Obersten Gericht die Zähne ausgeschlagen hatte. Der Richter hatte ihm die Frau ausgespannt. „Ich war nicht ganz so sauber wie meine Schuhe“, vertraut er uns als Icherzähler im Thriller „Bis in alle Endlichkeit“ von James Kestrel an.

Kestrel hat 2023 Furore gemacht mit dem epischen, sich über fünf Jahre rund um den Zweiten Weltkrieg im Pazifikraum erstreckenden grandiosen Thriller „Fünf Winter“. Marketingtechnisch geschickt lehnt sich das Cover des neuen Romans an dem vorher erschienen Titel an. Und auch indem er unter dem Namen James Kestrel erscheint, dem Nom de plume von Jonathan Moore, der in Honolulu als Anwalt tätig ist und unter seinem richtigen Namen bereits ein halbes Dutzend Romane publiziert hatte (einer, „Poison Artist“ ist 2022 auf Deutsch erschienen), darunter auch 2019 „Blood Relations“, der jetzt als „Bis in alle Endlichkeit“ auf Deutsch vorliegt.

Die Geschichte beginnt damit, dass Lee mitten in der Nacht, unterwegs von einem ziemlich dreckigen Job nach Hause, eine schöne junge Blondine auf dem eingedrückten Dach eines Rolls-Royce liegen sieht. Er stellt schnell fest, dass sie tot ist. Und schiesst ein paar Fotos von ihr, um sie an ein Boulevardblatt zu verscherbeln, bevor er sich vom Acker macht. Da weiss er noch nicht, dass er schon bald als Privatdetektiv dem Tod der Frau nachgehen wird.

Die Tote ist die Tochter einer sehr, sehr reichen Klientin des Anwalts, für den Lee oft arbeitet. Als diese nach einem Ermittler fragt, der wenig Hemmungen vor illegalen Methoden hat, vermittelt er ihr Lee. Die Polizei hat den Fall als Suizid abgehakt, die Frau sei vom Haus in einem miesen Viertel von San Francisco, neben dem der Rolls stand, gesprungen. Die Mutter glaubt das nicht, Lee fragt nach: „,Wie kommen Sie darauf, dass die Polizei etwas verbirgt?’ ,Wie kommen Sie darauf, dass sie es nicht tut? Sie kennen den Laden doch’, erwiderte sie.“

Kaum hat Lee begonnen, dem Leben der Toten nachzugehen, will ihn ein maskierter Kerl umbringen. Doch Lee tötet den Maskierten. Wenig später trifft er auf eine Frau, die genau gleich aussieht wie die Tote – und diese auch gekannt hat. Mit ihr kommt Lee unheimlichen Machenschaften auf die Spur. Doch die Kreise dahinter schrecken vor nichts zurück, wenn ihnen jemand auf die Schliche kommt.

Moore/Kestrel spielt in dem spannenden und knallharten Thriller raffiniert mit den bizarren Auswüchsen des Longevity-Booms in den USA. Vor allem ein paar Tech-Milliardäre haben sich längst von der Better-Aging-Phase verabschiedet und streben nicht weniger als Unsterblichkeit an. Gewisse Bereiche der entsprechenden Forschung, wie etwa Zellverjüngungen durch Stammzellentherapien, spielen in dem Thriller eine Rolle. Oder geht es gar um das Klonen von Menschen? Das ist zwar vielleicht etwas gruselig, aber auch faszinierend und fesselnd.

„Es hat Spass gemacht, eine Reise in Lee Crowes Welt zu unternehmen“, schreibt der Autor in einer Nachbemerkung, „und ich würde gern irgendwann dorthin zurückkehren.“ Mit dem Schluss des Romans spurt er eine neue Geschichte um Lee Crowe bereits vor. Als Leser würde ich ihm gerne auf einen neuen Trip in dessen Welt folgen.

Wertung: 4,5 / 5

James Kestrel: Bis in alle Endlichkeit
(Original [als Jonathan Moore]: Blood Relations. Harper Paperbacks, New York 2019)
Aus dem Englischen von Stefan Lux
Suhrkamp, Berlin 2024. 432 Seiten, 20 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Maria Wang

James Kestrel

ist das Pseudonym von Jonathan Moore, der auch unter seinem bürgerlichen Namen Bücher veröffentlichte. Er ist 1977 in Stanford, Kalifornien, geboren, arbeitete als Englischlehrer, River-Rafting-Führer auf dem Rio Grande, Betreuer in einem Wildniscamp für jugendliche Straftäter in Texas und als Ermittler für einen Strafverteidiger in Washington DC. Drei Jahre lebte er in Taiwan, wo er Mandarin studierte, in einem Kindergarten arbeitete und ein mexikanisches Restaurant betrieb, bevor er an der Tulane Law School in New Orleans Rechtswissenschaften studierte und 2007 magna cum laude graduierte.

Sein erster Roman „Redheads“ erschien 2013. „The Poison Artist“, im Original erschienen 2015, war sein dritter Roman und sein erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde („Poison Artist“, Suhrkamp, 2022). Als Jonathan Moore hat er sechs Romane veröffentlicht. „Blood Relations“ (2019), jetzt als „Bis in alle Endlichkeit“ unter dem Nom de plume James Kestrel auf Deutsch erschienen, war für den Edgar Award und für den Hammett Prize nominiert. „Five Decembers“ (als „Fünf Winter“ 2023 auf Deutsch erschienen), ist sein erster Roman unter dem Pseudonym James Kestrel. Er erschien in den USA im Kultverlag Hard Case Crime von Charles Ardai. Er wurde 2022 mit dem Edgar Award für den besten Krimi und 2023 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.

Jonathan Moore ist verheiratet mit Maria Wang und lebt mit seiner Familie in Volcano Village auf Hawaii, wo er, wenn er nicht schreibt oder an seinem Boot arbeitet, seit über 15 Jahren als Anwalt tätig ist. Er ist Partner der Kanzlei Kobayashi Sugita & Goda in Honolulu und befasst sich mit komplexen Rechtsstreitigkeiten in den Bereichen Handel, Immobilien, Vertragsstreitigkeiten, Einhaltung von Umweltvorschriften, öffentliche Aufträge und mit allgemeinen Rechtsstreitigkeiten.


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„Eine böse schwarze Komödie im doppelten Wortsinn“

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