Vom Leben verurteilt
Der erste Satz
Die drittletzte Laterne am Ende der Strasse geht plötzlich aus.
Krimi der Woche ∙ N° 13/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Mit „Der Beifahrer“ hat uns der Wiener Septime Verlag im Herbst 2023 die überfällige Entdeckung des 2010 verstorbenen französischen Noir-Autors Pascal Garnier auf Deutsch ermöglicht. Als zweiter Titel von Garnier liegt jetzt „An der A26“, im Original 1999 veröffentlicht, vor. Dieser schmale Band ist so schwarz, dass „Der Beifahrer“ vergleichsweise lediglich noch grau wirkt.
Wie der Titel schon sagt, ist die Geschichte irgendwo an der Autobahn im Norden Frankreichs, die zu dieser Zeit noch im Bau ist, angesiedelt. Die A26, auch „Autoroute des Anglais“ genannt, da sie von der Hafenstadt Calais südwärts nach Troyes führt, ist von 1977 bis 1992 erbaut worden. Die grosse Baustelle gibt Bernard die Möglichkeit, die Leichen weiblicher Zufallsbekanntschaften zu entsorgen. Bernard ist krank. Krebs. Er hat nicht mehr lange zu leben. Er arbeitete bei der Bahn, jetzt ist er dauerhaft krankgeschrieben. Und er sorgt für seine Schwester Yolande.
Yolande hatte sich während dem Krieg mit einem deutschen Soldaten eingelassen. Deshalb wurde sie bei Kriegsende von Einheimischen im „Café de la Gare“ kahlgeschoren. Doch sie wusste: „In Wahrheit hat man ihr den Schädel nicht wegen dem rasiert, was sie mit dem Deutschen getan hatte, sondern wegen dem, was sie mit einigen ihrer »Friseure« zu tun sich geweigert hatte.“ Doch von dem Tag an hat sie das Haus, das sie mit ihrem Bruder Bernard bewohnt, nicht mehr verlassen, ist dem Wahnsinn anheimgefallen. „Sie wird weiterhin jeden Morgen an ihrem bisschen Leben stricken und abends die Maschen wieder auftrennen, unermüdlich, ohne sich jemals ein Ende vorzustellen.“ Das Haus ist verdreckt und zugemüllt. Die Fensterläden sind immer geschlossen. Durch ein eigens dafür gebohrtes Loch blickt Yolande zuweilen auf die Welt draussen. Je nach Stimmung nennt sie die Öffnung „Bauchnabel“ oder „Loch im Arsch der Welt“. Was wird sie tun, wenn ihr Bruder stirbt?
Keine 120 Seiten brauchte Garnier, um seine tiefschwarze Geschichte auf meisterliche Weise zu erzählen. Es ist eine isolierte Gemeinschaft, die langsam unausweichlich in die Selbstzerstörung driftet, die Frage ist nur, wie viele andere dabei auf der Strecke bleiben. Präzise und doch auch leicht philosophisch, gnadenlos hart und doch auch mit leisem Humor entfaltet sich das Grauen in der verregneten nordfranzösischen Provinz. Die Versehrungen des Krieges mögen einen Teil zur existenziellen Düsternis, in der die Protagonisten mehr dahinsiechen als leben, beigetragen haben. Aber es ist letztlich das Dasein an sich, das auf ihnen lastet. Bernard fragt sich, nachdem er eine Frau getötet hat, was man ihm überhaupt noch anhaben könnte: „Das Leben hat ihn schon verurteilt, für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, nämlich geboren worden zu sein, ohne es gewollt zu haben.“
Wertung: 4,5 / 5
Pascal Garnier: An der A26
(Original: L’ A26. Editions Zulma, Paris 1999)
Aus dem Französischen von Felix Mayer
Septime Verlag, Wien 2024. 118 Seiten, 19 Euro/ca. 27 Franken
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Pascal Garnier,
geboren 1949 in Paris, gestorben 2010 in Valence, hat mit 15 Jahren die Schule und seine Familie verlassen. Er hat sich dann einige Jahre in der Welt herumgetrieben, vor allem in Nordafrika, im Nahen Osten und in Asien.
Mit 25 kehrte nach Frankreich zurück, wo er sich zunächst mit kleinen Gelegenheitsjobs beschäftigte, bevor er sich mit 35 der Schriftstellerei zuwandte. Ab 1996 bis zu seinem Tod veröffentlichte er rund fünfzehn Kriminalromane, daneben eine grosse Zahl von Jugendbüchern. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Längere Zeit lebte er in Lyon, dann in einem kleinen Dorf in der Ardèche im Südosten Frankreichs. Wenn er nicht schrieb, reiste oder malte er. Er starb mit 60 Jahren in einem Spital in Valence an Bauchspeicheldrüsenkrebs.