Auf der Suche nach dem Ursprung menschlicher Grausamkeit

Der erste Satz
Ihr wisst ja, wie das ist, wenn man zu lange auf dem Globus herumgewandert ist und sich schon zu oft mit vier Fingerbreit Jack im Humpen und einem Bier oder mit irgendeinem anderen Fusel, den man gerade zur Hand hat, die Birne weggeballert hat.

Krimi der Woche ∙ N° 32/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eigentlich ist Dave Robicheaux gar nicht im Dienst, als er beginnt, der Geschichte nachzugehen. Aber es ist eben, wie sein bester Freund, der Privatdetektiv Clete Purcel, ihm sagt: „Du bist ein Cop, Dave. Ob mit Marke oder ohne.“ Es ist eine eher undurchsichtige Sache zwischen zwei Gangsterfamilien, den Shondells in New Iberia, wo Robicheaux lebt und arbeitet, und den Balangies in New Orleans. Beide Sippen, seit Generationen ansässig, sind Robicheaux und Purcel schon lange ein Dorn im Auge.

Ob die Familien sich wirklich bekämpfen oder nicht doch miteinander kungeln oder gar gleichzeitig beides, ist nicht klar. Aber offenbar soll Isolde Balangie, die Stieftochter des einen Clanchefs, an Mark Shondell, das Oberhaupt der anderen Familie, „ausgeliefert“ werden. Was ist das für ein Deal, steckt Menschenhandel dahinter? Dazu kommt, dass Isolde und der Neffe von Mark Shondell, der Musiker Johnny Shondell, ineinander verliebt sind. Robicheaux und Purcel treten beiden Seiten unsanft auf die Füsse, und geraten schnell ins Visier der gegnerischen Kreise. Als dann zwei Männer, die Mark Shondell auf Purcel angesetzt hat, zerstückelt aufgefunden werden, wird daraus ein Fall für die Polizei. Und die Gewalt eskaliert.

„Verschwinden ist keine Lösung“ heisst der nun bereits 23. Krimi mit Dave Robicheaux von James Lee Burke. Und es könnte der letzte sein, wird gemutmasst. Denn Burke ist zwar ein äusserst fleissiger Schreiber, er wird jedoch Ende dieses Jahres 87, und er arbeitet auch an anderen Projekten. Gerade erschienen ist ein Bürgerkriegsroman, im vergangenen Jahr ein weiterer Band der Saga über die texanische Familie Holland. Und derzeit arbeitet er an einem Roman, in dem Robicheauxs Sidekick Clete Purcel die im Mittelpunkt stehen soll.

Ein würdiger Abschluss der Serie wäre der neue Robicheaux durchaus, aber wir nehmen gerne auch noch mehr davon. Die Reihe zählt zu den besten Serien der Kriminalliteratur. Sie hat 1987 mit „Neonregen“ stark begonnen und ist dann stetig noch besser geworden. Der neue Roman zählt zu den düstersten der Serie. Die Welt ist schlecht, Robicheaux ist einsam, seine Partnerinnen hat er verloren, die Tochter ist an einer fernen Uni. Täglich wird er gepeinigt von seinen Albträumen aus dem Vietnamkrieg, seinem Alkoholismus, wiewohl er seit anderthalb Jahren trocken ist, von Erscheinungen tief aus der Geschichte und von seinem Gefühl, zu wenig für eine bessere Welt tun zu können.

„Ich suchte nach dem Ursprung menschlicher Grausamkeit. Man achte bitte darauf, dass ich nicht ,das Böse’ gesagt habe. Letzteres ist ein Oberbegriff, Ersteres nicht. Das Böse kann Sucht, Gier, Faulheit, unpassendes Sexualverhalten oder einfach nur Fehler beinhalten und all die anderen Begleiterscheinungen der Todsünden, abhängig davon, wer spricht. Grausamkeit ist anders. Sie kennt keine Grenzen und ist uferlos. Oft geschieht sie ohne Motivation. Üblicherweise ist sie teuflisch und betrifft eher Tätergruppen als Individuen.“

Es wird also, wie immer bei Burke, ziemlich grundsätzlich. Virtuos vermengt er all die Themen, die seinen Helden und dessen Freund umtreiben. Das reicht von Missbrauch jeglicher Art, Sexismus und Rassismus über die Zerstörung der Umwelt bis hin zu korrupten Polizisten und Politikern und alten und neuen Nazis. Zeitlich ist die Story nicht in den fortlaufenden Folgen der Serie eingeordnet, sondern Burke geht hier zurück an den Anfang dieses Jahrhunderts, vor 9/11, wobei es Bezüge gibt, die bis ins Mittelalter zurückgehen. Die Geschichte ist zudem gespickt mit allerlei mehr oder weniger offensichtlichen Reverenzen, etwa an Homer, und mit Johnny und Isolde natürlich an Tristan und Isolde.

Nicht zum ersten Mal wird Robicheaux von Erscheinungen heimgesucht. Diesmal sind es nicht Bürgerkriegssoldaten in einer nebligen Landschaft, sondern es ist eine Galeere mit knarrenden Rudern, die er nachts aus seinem Küchenfenster auf dem Bayou Teche sieht. Übersinnliche Phänomene sorgen in diesem Roman für einen Touch von Horrorstory: Ein zeitreisender Killer mit schuppiger Haut und echsenartigem Kopf namens Gideon Richetti taucht mitunter auf und scheint geisterhaft das Böse zu repräsentieren, doch so einfach ist er dann doch nicht gestrickt. Dem brillanten Autor nimmt man selbst solche Ausflüge ab, baut er sie doch organisch in seine Geschichte ein. In einem Beitrag über die Ursprünge der Story dieses Romans auf seiner Website sagt Burke dazu, Robicheaux erfahre in seiner Konfrontation mit Gideon, „dass die Zeit vielleicht nicht aufeinander folgt, dass vielleicht alle Geschichte gleichzeitig stattfindet, dass der Mythos gar kein Mythos ist, dass wir stattdessen alle Teil desselben Dramas sind, die Toten, die Lebenden und die Ungeborenen, Hologramme, die im Inneren von Gottes Geist existieren“.

Altmeister Burke zeigt sich hier in Bestform. Der Roman wirkt zuweilen wie ein phantasmagorischer Alptraum, fiebrig, brutal. Dann keimt wieder irgendwo leise Hoffnung. Und bei Beschreibungen von Land und Leuten wird es schon mal poetisch, bei der Liebe leidenschaftlich. Und die Erkenntnisse Dave Robicheauxs können auch uns eine Lehre sein. Zum Beispiel: „Lass dich nicht von Schwachsinn aus dem Mund von Leuten täuschen, die keine Ahnung haben, was das Böse wirklich ist.“

Wertung: 4,8 / 5

James Lee Burke: Verschwinden ist keine Lösung
(Original: A Private Cathedral. Simon & Schuster, New York 2020)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 466 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: Robert Clark

James Lee Burke,

geboren 1936 in Houston, Texas, wuchs im Grenzgebiet von Texas und Louisiana an der Golfküste der USA auf. Er studierte Literatur an der University of Louisiana in Lafayette und an der University of Missouri in Columbia.

Er veröffentlichte in den 1960er-Jahren seine ersten Bücher, die von der Kritik gelobt wurden. Nachdem sein Roman „Lay Down My Sword & Shield“ (Deutsch unter dem Titel „Zeit der Ernte“ 2017 bei Heyne) 1971 floppte, bekam er für sein viertes Buch, „The Lost Get-Back Boogie“ über hundert Absagen (nachdem es fünfzehn Jahre später doch noch erschien, wurde es für den Pulitzer-Preis nominiert), und es dauerte dreizehn Jahre, bis er sein nächstes Buch veröffentlichen konnte. Burke arbeitete derweil in verschiedenen Jobs, unter anderem als Lastwagenfahrer und als Reporter, als Sozialarbeiter in Los Angeles und in einem Arbeitsprogramm für arbeitslose Jugendliche in Kentucky. In den 1980ern lehrte er kreatives Schreiben an der Wichita State University in Kansas.

1987 startete er mit „The Neon Rain“ („Neonregen“) die Serie um Dave Robicheaux, einen Ermittler in Louisiana, die inzwischen 23 Romane umfasst, die auf Deutsch alle vom  Pendragon Verlag erstmals oder neu veröffentlicht wurden. Mit Robicheaux hatte Burke erstmals grossen Erfolg, und er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Romanreihe erscheint fast in der ganzen Welt. Daneben gibt es die inzwischen 13 Bände umfassenden Holland-Saga (die meisten gibt es auf Deutsch bei Heyne), in denen es um verschiedene Mitglieder und Generationen der texanischen Familie Holland geht. Mehrere weitere Werke, darunter vor allem die ganz frühen, sind nicht ins Deutsche übertragen worden. Insgesamt hat Burke bisher mehr als 40 Romane veröffentlicht.

Mit seiner Frau, Pearl Pai Chu, hat James Lee Burke vier Kinder. Tochter Alafair Burke, geboren 1969, studierte Juristin, ist ebenfalls als Krimiautorin erfolgreich. Eine andere Tochter ist 2020 gestorben. Burke lebt mit seiner Frau auf einer Ranch in Lolo in der Nähe von Missoula in Montana und, wie sein Held Dave Robicheaux, in New Iberia in Louisiana.

 


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