Ein fataler Steinwurf hat Jahre später böse Folgen

Der erste Satz
In diesem Sommer gehen Bobby Santovasco und sein bester Freund Zeke einmal in der Woche zum Belt Parkway und werfen irgendwelches Zeug auf die Autos, die beim Ceasar’s Bay Shopping Center auf den Bay Parkway abfahren.

Krimi der Woche ∙ N° 30/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es ist nur ein etwas blöder Zeitvertrieb, die Folgen sind fatal. Der vierzehnjährige Bobby und ein Kumpel werfen von einer Brücke Sachen auf Autos. Es beginnt mit kleinen Senf- und Ketchupportionen aus dem nahen Wendy’s, die Autofahrer erschrecken, und führt über Tennisbälle hin zu Steinen. Bis ein Stein die 19-jährige Amelia trifft, was zu einem Unfall führt. Amalia ist tot. Sie war für ihren Vater Jack seit dem Krebstod seiner Frau sein Ein und Alles. Er kennt sich aus mit Rache, denn seit er seine Frau verloren hat, kümmert er sich für andere um schlechte Menschen, verpasst ihnen einen Denkzettel oder bringt auch mal einen um. Doch den Jungen, der am Tod seiner Tochter schuld ist, findet er nicht.

Das war 1996. Fünf Jahre später stösst Jack auf verschlungenen Wegen doch noch auf den inzwischen neunzehnjährigen Bobby. Davon erzählt William Boyle in seinem neuen Roman „Shoot the Moonlight Out“, so benannt nach einem Song des Brooklyner Singer/Songwriters Garland Jeffreys aus den 1970er Jahren. Wie der Songs handelt auch der Roman ein bisschen von ungestümen Teenagern, von Liebe und dem Gefühl, das alles möglich sein könnte.

Wie in früheren Werken von Boyle – „Shoot the Moonlight Out“ ist sein fünfter Roman, der auf Deutsch erscheint – ist das Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in dem er aufgewachsen ist, der Schauplatz. Die Handlung ist nicht linear erzählt, sondern fast kaleidoskopisch: Einzelne Geschichten fliessen langsam ineinander. Die Erzählperspektive wechselt von Kapitel zu Kapitel zwischen den verschiedenen Protagonisten. Die wichtigsten Personen werden uns mit Geschichten aus ihrem Leben nahegebracht.

Mehr und mehr beginnen sich ihre Wege zu kreuzen, es gibt alte und neue Verbindungen und Beziehungen. Bei der jungen Autorin Lily besucht Jack einen Schreibkurs und er wird zu einem väterlichen Freund. Lily war eine Zeitlang Bobbys Stiefschwester. Bobby arbeitet bei Max, einem Freund seines Vaters, der mit einem miesen Schneeballsystem Menschen aus dem Viertel um ihre Ersparnisse bringt. Kurz vor Amelias Unfall hat Jack im Auftrag einer geprellten Frau Max besucht. Zu den weiteren Figuren gehören der Möchtegern-Mafioso Charlie, der bei Max viel Geld und Drogen deponiert. Und Francesca, deren Mutter bei Max Geld „investierte“, die Filmemacherin werden will und mit der Bobby anbandelt.

Aus verschiedenen Ereignissen ergeben sich neue Situationen und Ereignisse, ein bisschen wie die kreisförmigen Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein bildet. Bobby, den sein fataler Steinwurf nach wie vor beschäftigt, will einen Coup landen und mit Francesca abhauen. Das führt zu einer Eskalation der Gewalt, die in einem blutigen Showdown gipfelt.

Er versuche darüber zu schreiben, „wie schlechte Menschen Gutes tun können und gute Menschen Schlechtes tun können“, sagte Boyle in einem Interview im „Los Angeles Review of Books“ zu seinem vorherigen Buch „Brachland“. Dies trifft auch auf „Shoot the Moonlight Out“ zu. Es ist ein brillanter Kleine-Leute-Noir, in dem es um Liebe und Vertrauen geht, um Schuld und Vergebung, um Beziehungen und vor allem um Familienverhältnisse, die zumeist desolat sind und von Verlusten geprägt. Boyle erzählt gnadenlos, aber empathisch, zuweilen brutal, aber auch mit leisem Humor. Meisterlich.

Wertung: 4,7 / 5

William Boyle: Shoot the Moonlight Out
Original: Shoot the Moonlight Out. No Exit Press, Harpenden UK, 2021)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag, Stuttgart 2023., 349 Seiten, 26 Euro/ca. 36 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Katie Farrell Boyle

William Boyle,

geboren 1978 im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo er auch aufgewachsen ist, studierte an der State University of New York in New Paltz. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, Mississippi.

2013 erschien sein erster Roman „Gravesend“ (Deutsch 2018 unter dem Originaltitel). Es folgte der Storyband „Death Don’t Have No Mercy“. Sein zweiter Roman „Everything Is Broken“ erschien 2017 unter dem Titel „Tout est brisé“ nur in Frankreich. Dort hatte Boyle schon mit seinem Debüt Furore gemacht: „Gravesend“ erschien 2016 in der renommierten, von Frankreichs Krimipapst François Guérif 1986 gegründeten Reihe Rivages/Noir als Band Nummer 1000. „The Lonely Witness“ (2018), Boyles dritter Roman, erschien 2019 auf Deutsch („Einsame Zeugin“), der vierte, „A Friend is a Gift You Give Yourself“ (2019) 2020 („Eine wahre Freundin“). „City of Margins“ (2020) erschien 2022 auf Deutsch unter dem Titel „Brachland“ und nun „Shoot the Moonlight Out“ (2021), der auf Deutsch den Originaltitel trägt. Boyle schreibt auch regelmässig Artikel über Filme, Musik und Literatur für verschiedene Magazine.

Boyle lebte in den New Yorker Stadtteilen Brooklyn und Bronx, Upstate New York im Hudson Valley und in Austin, Texas, bevor er 2012 nach Oxford, Mississippi zog, wo er mit seiner Frau Katie Farrell Boyle und zwei Kindern – Eamon und Connolly Jean – lebt.


Zurück
Zurück

Der Mann, der sich um die Leichen kümmert

Weiter
Weiter

Auftragskiller, Drogenhändler und Vergewaltiger in der australischen Provinz