Wasserleichen und eine Femme fatale
Der erste Satz
Nachdem er eingecheckt hatte und auf sein Zimmer gegangen war, stellte Caleb sich vor den Ankleidespiegel, der aussen an der Badezimmertür angebracht war, und betrachtete seine Stirn.
Krimi der Woche∙ N° 28/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Caleb Maddox ist ein brillanter Toxikologe. „Er hatte sein Leben damit zugebracht, Dinge zu entdecken, die sonst niemand sah. Gifte, Erreger. Manche Leute wollten nicht glauben, dass sie existierten, bis er sie ihnen zeigte.“ Er erforscht die physiologischen Auswirkungen von Schmerz, „wie er den Körper verändert, chemisch gesehen“. Er „will dahinterkommen, wie Schmerz sich messen lässt“.
Meistens ist es tiefe Nacht, wenn Caleb unterwegs ist. Und es regnet. Oder San Francisco ist nebelverhangen. So düster und undurchsichtig wie sich die Stadt zeigt, lässt sich auch die Geschichte an, die Jonathan Moore in seinem Roman „Poison Artist“ erzählt.
Am Anfang wird Caleb nach einem heftigen Streit, dessen Gründe erst später klarer werden, von seiner Freundin Bridget, einer Künstlerin, verlassen. Er ertränkt sein Elend in Alkohol. Dabei trifft er in einer Bar auf eine extravagante Frau, die Absinth trinkt, Berthe de Joux, ein Destillat aus dem französischen Jura. Eine Femme fatale wie aus einem Film noir aus den Vierzigerjahren. Emmeline trägt ein rückenfreies Seidenkleid, das ihn an einen Stummfilmstar erinnert. Sie fährt einen Invicta Black Prince, einen englischen Sportwagen, von dem Ende der Vierziger gerademal sechzehn Stück gebaut wurden.
Nach der ersten Begegnung bringt er die Frau nicht mehr aus dem Kopf und macht sich auf die Suche nach ihr. Gleichzeitig bittet ihn sein bester Freund Henry, der Gerichtsmediziner ist, um Hilfe. Bei mehreren Wasserleichen, die in letzter Zeit aufgetaucht sind, gibt es seltsame Anzeichen von Vergiftungen. Caleb kann die Substanzen eruieren. Und er stellt fest, dass den Getöteten vorher extremste Schmerzen zugefügt wurden.
Die von Anfang an düstere und undurchsichtige Geschichte wird stetig noch dunkler und rätselhafter. Caleb stösst bald wieder auf Emmeline, und er lässt sich mit dieser Frau seiner Träume auf eine bizarre Beziehung ein. Die schliesslich zum Alptraum wird. Hat die Frau etwas mit den Wasserleichen zu tun?
Jonathan Moore verbindet in seinem aussergewöhnlichen Roman den raffinierten Thriller-Plot mit ein paar Gothic-Novel-Elementen, wobei Manches nur angedeutet oder im Dunklen gelassen wird. Es geht um Gifte, um Forschung. Um Schmerzen. Um mysteriöse Todesfälle. Um Alkohol, gutes Essen und Sex. Um Psychologie. Aber auch um Kunst, um ein Gemälde des klassischen Porträtmalers John Singer Sargent. Um Freundschaften. Um Dämonen aus einer finsteren Vergangenheit. Und um einen Mann, dessen Leben zerbricht. „Der Boden unter ihm war nur eine Illusion gewesen und hatte ihm all die Jahre eine falsche Stabilität vorgegaukelt.“
Wertung: 3,8 / 5
Jonathan Moore: Poison Artist
(Original: „The Poison Artist“. Orion, New York 2016)
Aus dem Englischen von Stefan Lux
Suhrkamp, Berlin 2022. 352 Seiten, 16,95 Euro/ca. 25 Franken
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Jonathan Moore,
geboren 1977, arbeitete als Englischlehrer, River-Rafting-Führer auf dem Rio Grande, Betreuer in einem Wildniscamp für jugendliche Straftäter in Texas und als Ermittler für einen Strafverteidiger in Washington D.C.. Drei Jahre lebte er in Taiwan, wo er Mandarin studierte, in einem Kindergarten arbeitete und ein mexikanisches Restaurant betrieb, bevor er an der Tulane Law School in New Orleans Rechtswissenschaften studierte und 2007 magna cum laude graduierte.
Sein erster Roman „Redheads“ erschien 2013. „The Poison Artist“, im Original erschienen 2015, war sein dritter Roman und ist sein erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Insgesamt hat er bisher sechs Romane veröffentlicht. Der letzte Titel „Blood Relations“ (2019) war für den Edgar Award und für den Hammett Prize nominiert.
Jonathan Moore lebt mit seiner Familie in Honolulu auf Hawaii, wo er, wenn er nicht schreibt oder an seinem Boot arbeitet, seit rund 15 Jahren als Anwalt tätig ist. Dabei befasst er sich mit komplexen Rechtsstreitigkeiten in den Bereichen Handel, Immobilien, Vertragsstreitigkeiten, Einhaltung von Umweltvorschriften, öffentliche Aufträge und mit allgemeinen Rechtsstreitigkeiten.