Ein Kilo Koks in der ausgehöhlten Bibel
Der erste Satz
Wenn’s zu Ende geht, wird’s ziemlich genau so sein, dachte Grant, als die Flammen, die seine Nasenlöcher hinaufflackerten, zu einem sanften Tröpfeln auf der Rückseite seiner Kehle wurden.
Krimi der Woche∙ N° 20/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Eine junge Frau und ein junger Mann, die es nicht wirklich können miteinander, aber offenbar noch weniger ohne einander, sind gemeinsam unterwegs. Ihre Namen und Identitäten wechseln sie nach Bedarf, wir nennen sie hier so, wie sie sich in dieser Geschichte am längsten nennen: Summer und Jack. Aus North Carolina reisen sie nach Texas, um Drogen an College-Kids zu verticken. Ein Kilo geklautes Kokain haben sie in einer ausgehöhlten King-James-Bibel im leichten Gepäck. So beginnt „Das schnelle Leben“ von Eryk Pruitt. Der in Texas geborene und in North Carolina lebende Autor, der auch Filme macht und eine Bar betreibt, ist ein Verehrer der Noir-Legende Jim Thompson (1906–1977), wie wir im Nachwort von Marcus Müntefering erfahren. So wundert es nicht, dass seine Protagonisten am Anfang ziemlich tief im Dreck stecken. Und dass es von da stetig weiter abwärts geht.
Jack ist ein Betrüger und Hochstapler, intelligent und brutal, Einfühlungsvermögen ist nicht sein Ding. Summer weiß, wie man die Leute rumkriegt: „Wenn Leute nicht high genug waren, um nach ihrer Pfeife zu tanzen oder sie interessant zu finden, stopfte sie einfach ein neues Pfeifchen. Drehte einen weiteren Joint. Endlos immer so weiter, bis sie schließlich ihren Willen bekam.“
Nach einem Bruch in der Drogenverkaufstour des Duos beginnt in der Mitte des Buches quasi eine neue Geschichte in einem obskuren Drogenentzugscamp. Summer steckt dort, nachdem sie fast an einer Überdosis gestorben ist. Dann taucht auch Jack auf. Und übernimmt kurzerhand den Laden, der bald zu einer Art durchgeknallten Sekte wird. Das weckt bei der Lektüre Erinnerungen an die Branch Davidians im texanischen Waco, die 1993 weltweit Schlagzeilen machten.
Von einem Jim Thompson, der mit brillant-bösen Romanen wie „Der Mörder in mir“ und „1280 schwarzen Seelen“ Maßstäbe für das Genre gesetzt hat, ist Pruitt noch weit entfernt. Nicht alle Wendungen seiner Geschichte sind wirklich schlüssig, einzelne Situationen werden etwas gar breit ausgewalzt, und manche Sprachbilder sind etwas an den Haaren herbeigezogen: „Sie vermutete, dass sie sich in den besten Boden auf der Welt einpflanzen und Äpfel aus dem Arsch wachsen lassen konnte, und trotzdem würde kein Mensch in ihr den Zweck, sondern immer nur das Mittel sehen.“ Dennoch kann Pruitts dritter Roman, der erste auf Deutsch, über weite Strecken durchaus fesseln. Dafür sorgt eine von keinen moralischen Bedenken getrübte Fabulierlust, die schon mal zynisch wirken kann, aber vor allem schwarzen Humor zeigt. „Das schnelle Leben“ ein wilder Höllenritt durch Drogensumpf und Bigotterie, der von Wahn und Wahrheit, Loyalität und Verrat handelt. Wobei Treue für Summer nichts als „Bockmist“ ist: „Kein Mensch war irgendwas oder irgendwem treu, am allerwenigsten sich selbst.“
Wertung: 3,3 / 5
Eryk Pruitt: Das schnelle Leben
(Original: What we reckon, Polis Books, Hoboken, New Jersey 2017
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Mit einem Nachwort von Marcus Müntefering
Polar Verlag, Stuttgart 2022. 381 Seiten, 25 Euro/ca. 35 Franken
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Eryk Pruitt,
geboren ca. 1977 (genauer Jahrgang unbekannt) in Dallas, Texas, wuchs in Lancaster, einem Vorort der Grossstadt Dallas auf, wo er die High School besuchte. An der Stephen F. Austin State University in Nacogdoches in East Texas studierte er Geschichte und Literatur.
Mit dem Kurzfilm „Foodie“, einer düsteren Horrorkomödie, die er 2011 schrieb und produzierte, gewann er mehrere Preise an Filmfestivals. Er schrieb eine Reihe von weiteren Drehbüchern und veröffentliche Kurzgeschichten in Magazinen wie „The Avalon Literary Review“, „Pulp Modern“ und „Zymbol“. 2014 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Dirtbags“, 2015 folgte „Hashtag“. „What we reckon“, jetzt auf Deutsch als „Das schnelle Leben“ erschienen, folgte 2017 und ist sein aktuellster Roman.
„Wenn ich etwas tun will, dann ist es, eine gute Geschichte erzählen. Horror, Noir, Spannung … Film, Bühne, Buchseiten … Für mich zählt nur die Geschichte“, schreibt Eryk Pruitt über sich, „ich erzähle sie dir in einer Bar bei einem Bourbon oder in einem vollen Kino während eines Filmfestivals. Das Leben ist kurz, am Ende bleiben nur die Geschichten.“ Er lebt als Autor, Drehbuchschreiber, Filmemacher und Barbesitzer mit seiner Frau Lana in Durham, North Carolina.