Ein Gangster versinkt in Paranoia
Der erste Satz
Ein leichter trockener Wind säuselt über die Küstenebene, raunt auf seinem Weg zu den Dünen und dem zitternden spröden Dünengras an den Ecken des Bungalows.
Krimi der Woche ∙ N° 02/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger
Verfilmt mit Michael Caine im Jahr 1971 und nochmals fast 30 Jahre später mit Sylvester Stallone: „Get Carter“ ist der berühmteste Roman des Briten Ted Lewis, der erste Teil der hervorragenden Trilogie um den Londoner Gangster Jack Carter. Damit gilt Lewis als Begründer des britischen Noirs. Doch Lewis konnte es noch besser: Zwei Jahre bevor er sich erst 42-jährig zu Tode trank, veröffentlichte er 1980 sein letztes und gleichzeitig bestes Buch. Der englische Titel „G.B.H.“ ist das Kürzel für „grievous bodily harm“, „Schwere Körperverletzung“, und so heisst der Roman auf Deutsch.
Vor 30 Jahren erschien der Roman erstmals auf Deutsch, jetzt liegt dieses Meisterwerk in einer Neuübersetzung wieder vor. Die Schilderung des unaufhaltsamen Niedergangs eines Gangsters fasziniert heute noch wie damals. Wir erleben die Geschichte ganz aus dem Blickwinkel des Protagonisten, der uns als Icherzähler seine Sicht und seine Wahrnehmungen näherbringt.
Es ist eine böse Geschichte aus der Londoner Unterwelt der Seventies. George Fowler herrscht über ein illegales Pornoimperium. Doch Mitarbeiter scheinen Geld abzuzweigen, Fowler sieht Feinde nicht nur bei anderen Unterweltorganisationen, sondern auch in den eigenen Reihen. Um diesen auf die Spur zu kommen, schreckt er nicht von brutaler Folter zurück, die auf viel mehr als nur schwere Körperverletzung hinausläuft. Schliesslich muss er sich zurückziehen aus dem direkten Geschäft und sich mit falscher Identität verstecken. Was der Auslöser dafür war, erfahren wir nur in Andeutungen.
Lewis erzählte diese Geschichte besonders raffiniert, indem er zwischen zwei parallel montierten Handlungssträngen hin und her springt. Im einen sind wir bei Fowler in seinem Bungalow am Meer, von dem niemand weiss. Hier verbringt er die Tage mit Saufen allein zu Hause, aber auch in den Bars der Kleinstadt. Mit Nachdenken über seine Widersacher – und mit einer stetig wachsenden Paranoia. Zufallsbekanntschaften aus dem Kaff werden plötzlich zu Bedrohungen. Dazwischen geschnitten – die ganze Erzählung ist sehr filmisch – sind seine Säuberungsaktionen in der eigenen Gang in London. Irgendwo zwischen diesen beiden Handlungssträngen ist Fowlers Frau verschwunden.
Die Geschichte gleicht einer klassischen Tragödie. Aus dem glamourösen City-Penthouse, wo Fowler als Pornokönig Hof hielt, führen ihn seine selbstzerstörerischen Aktionen in einen bunkerartigen Bungalow in einer Gegend, in der melancholische Zwischensaison-Tristesse herrscht.
„Schwere Körperverletzung“ zählt zu den besten und eindrücklichsten Werken der Kriminalliteratur – nicht nur der englischen oder derjenigen seiner Zeit, sondern generell.
Wertung: 5 / 5
Ted Lewis: Schwere Körperverletzung
(Original: „G.B.H,“, Sphere Books, London 1980)
Aus dem Englischen von Angelika Müller. Mit einem Vorwort von Derek Raymond
Pulp Master, Berlin 2020. 333 Seiten, 14,80 Euro/ca. 20 Franken
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Ted (Alfred Edward) Lewis,
geboren 1940 in Manchester, ist nach dem Krieg in der Kleinstadt Barton-upon-Humber im Norden Englands aufgewachsen. Seine Eltern wollten nicht, dass er auf eine Kunstschule ging, doch sein Englischlehrer, der Schriftsteller Henry Treece, erkannte sein kreatives Talent und überredete sie, ihm nicht im Wege zu stehen. Er besuchte dann während vier Jahren die Hull School of Art in Kingston upon Hull.
Er hatte sowohl gestalterisches wie schriftstellerisches Talent. In London arbeitete er zunächst in der Werbung, dann als Animationsspezialist beim Fernsehen. Er wirkte insbesondere am Beatles-Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“ (1968) mit.
Bereits 1965 erschien sein erster Roman „All the Way Home and All the Night Through“. Sein zweiter Roman „Jack’s Return Home“ (1970; Deutsch: „Jack Carters Heimkehr“) brachte bereits den Durchbruch. Er wurde von Regisseur Mike Hodges mit Michael Caine in der Hauptrolle des Gangsters Jack Carter unter dem Titel „Get Carter“ (1971) erfolgreich verfilmt, der Roman erschien danach unter dem Titel des Films und wurde ein Bestseller. 2000 entstand ein amerikanisches Remake von „Get Carter“ mit Sylvester Stallone in der Titelrolle; Michael Caine spielte darin eine Nebenrolle.
Lewis’ Roman gilt als Ursprung des sogenannten Brit Noir. „Jack Carter’s Law“ (1974; Deutsch: „Jack Carters Gesetz“) und „Jack Carter and the Mafia Pigeon“ (1977; Deutsch: „Jack Carters Wut“) vervollständigten eine herausragende Gangster-Trilogie. Lewis war fasziniert vom damaligen Unterwelt-Lifestyle im Londoner Stadtteil Soho.
Nach dem Scheitern seiner Ehe zog er zurück in seine Heimatstadt. Er veröffentliche insgesamt neun Romane und arbeitete auch als Drehbuchautor für TV-Serien. Sein letztes und gleichzeitig bestes Buch „G.B.H.“ (im Englischen die Abkürzung für grievous bodily harm, schwere Körperverletzung) erschien 1980; zehn Jahre später erschien es erstmals auf Deutsch unter dem Titel „Schwere Körperverletzung“; die aktuelle Ausgabe ist eine Neuübersetzung.
Ted Lewis starb 1982 erst 42-jährig überraschend an „alkoholbedingten Ursachen“.