Bescheissen und beschissen werden
Der erste Satz
Über dem Venedig, einem Streifen Land in Sursees Norden, begrenzt von Autobahn, Wald und der Sure, dem Fluss, der dem Städtchen und dem Tal den Namen gibt, schwebt ein Roter Milan, erhaben, so scheint es Melchior Kaufmann, dem ehemaligen Bauarbeiter.
Krimi der Woche ∙ N° 44/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Der einen oder dem anderen aus der Leserschaft mag schon aufgefallen sein, dass hier sehr selten Krimis aus der Schweiz besprochen werden, obwohl dieser Blog doch aus der Schweiz kommt. Ich schaue zwar immer wieder in Neuerscheinungen von Schweizer Autor:innen rein, doch schon nach der ersten Seite, manchmal nach ein paar mehr, beschliesse ich oft, mir diese Lektüre nicht anzutun. Ein Grammatikfehler im ersten Satz – und das nicht bei einem selbst verlegten oder aus einen Kleinstverlag kommenden Buch, sondern einem aus einem bekannten grösseren Verlag – lässt mich sofort aufgeben. Drei verunglückte Sprachbilder auf einer Seite – dito. Oftmals ist die Sprache einfach plump, kommt nicht auf den Punkt. Beginnt ein Buch mit langatmigen Erklärungen, damit ich dann sicher verstehen würde, was danach kommt, interessiert mich schon nicht mehr, was dann vielleicht noch kommt. Beschreibungen von Örtlichkeiten, die wirken wie von der lokalen Tourismusorganisation verfasst, schrecken mich genauso ab wie drohende Gewitterwolken, die das nahende Unheil verkünden. Und immer wieder ist es die schiere Langeweile, die sich über Seiten zieht. Nicht dass es immer mit harter Action losgehen müsste, aber irgendetwas, was mich ein bisschen interessiert, müsste auf den ersten Seiten schon vorkommen. Sei es eine Person, sei es etwas das passiert. Oder einfach eine Sprache, die zu lesen Freude macht. Das kann auch bei einem eher betulichen Einstieg der Fall sein.
Gemächlich beginnt auch „Wurmstichig“, der sechste Krimi des 70-jährigen Autors Peter Weingartner um Anselm Anderhub von der Kriminalpolizei Luzern, die Teil der Kantonspolizei ist. Auch wenn es zwei Seiten lang um einen Vogel geht, der da über der Landschaft des luzernischen Surentals kreist, wird es nicht langweilig. Ein Airbus 380 sei „ein lächerliches Nichts verglichen mit der Agilität des Raubvogels“, findet der Beobachter, und er denkt: „Wenn jeder Vogel eine Kondenswasserdampfspur hinter sich her zöge, hätten wir immerzu Nebel.“ Der pensionierte Bauarbeiter Melchior Kaufmann ist ein Bruder im Geiste des Kriminalisten Anderhub. Dessen Gedanken schweifen ebenfalls immer wieder ab, assoziieren dies und das, gleiten ab in Wortspielereien.
Auf seinem Sonntagsspaziergang mit der Witwe Röösli stösst Witwer Kaufmann im Wald bei Sursee auf eine Leiche, oder vielmehr der Hund der Freundin findet den Toten. Anselm Anderhub hat an diesem Sonntag zwar keinen Dienst, da er aber in der Kleinstadt Sursee wohnt, wird ihm der Fall übertragen; er kann sich gleich mit dem Fahrrad an den Tatort bzw. an den Fundort der Leiche begeben.
Beim Toten, dem Zeichen in die Wangen geritzt wurden, die wie eine 1 und eine 4 aussehen, handelt es sich um den Chef einer lokalen Immobilien- und Treuhandfirma. Ein Geschäft, in dem man sich schnell einmal Feinde machen kann, wie die Gattin des Toten erklärt, deren inzwischen verstorbener Vater der Gründer der Firma war. „,Das ist mir zu allgemein, das gilt auch für den Autohandel, den Antiquitätenmarkt, ja die ganze freie Marktwirtschaft’, konkretisiert Anselm seinen letzten Gedanken und kann sich gerade noch die Zunge abbeissen, bevor ihm ein anderer Gemeinplatz über die Zunge wandert, der das menschliche Wirtschaften an sich treffend beschreibt: bescheissen und beschissen werden; verseckeln und verarscht werden.“
Als sich dann beim geschändeten Grab des Firmengründers und Schwiegervaters des Toten aus dem Wald die Ziffernfolge 2/4 findet, schwant Anderhub, dass es da um eine Familiengeschichte gehen könnte. Und dass die Nummerierung, wie auf multiplen Kunstwerken, 2 von 4 bedeutet. Dass also auch noch 3/4 und 4/4 folgen dürften. Anselm Anderhubs Ahnung sollte sich als richtig erweisen. Nur dass der Täter auch noch eine Zugabe draufpacken wird, 5/4.
Der Krimiplot ist durchaus originell. Doch wie viele gute Krimis lebt „Wurmstichig“ nicht primär vom eigentlichen Kriminalfall. Sondern von den Protagonisten. Und vom Sprachstil, der am Anfang etwas umständlich wirkt, da der Autor gerne viele Gedanken und Beobachtungen in langen, verschachtelten Sätzen unterbringt. Man gewöhnt sich rasch an diesen Stil, und man bekommt Freude daran, auch am zuweilen schwarzen Humor wie auch am einen oder anderen „bildungsbürgerlichen Intermezzo“. Und an den Gedankengängen des Anselm „Selmi“ Anderhub sowieso. Etwa wenn der Chef der Kripo vom Druck schwafelt, der „Mittel und Menschen bindet“: „M&M, denkt Anderhub und stellt sich eine farbige Süssigkeit vor, derweil strategische Überlegungen anstehen. Ein Fischen im Trüben, wo Kraut und wo Rüben? Was packen, was lassen, wie zocken, was fassen?“
Nicht nur der zu bearbeitende Fall lässt Anderhubs Gedanken immer mal wieder wilde Sprünge machen. „Anselms Gehirn“, heisst es einmal, „eine Waschmaschine beim Schleudern.“ Das Zuhören, das Beobachten menschlichen Verhaltens befeuert seine Synapsen. Oder auch nur das Fliessen des Bachs. „Der Fluss fliesst talwärts; ein Reflux des Rheins würde zu Überschwemmungen in Gebieten führen, die Hochwasser kaum kennen. Und wenn das Meer ob seiner Magenverstimmung – Plastik, Gifte übelster Sorte – kotzte: Springflut am Gotthard.“ Der fast schon subversive Humor, der Schalk und der Sprachwitz heben Weingartners Krimis deutlich ab vom gängigen sogenannten Regionalkrimi, der oft auf wohlfeilen Flachwitz setzt. Sein ausgeprägter Stilwille macht den zutiefst schweizerischer Krimi „Wurmstichig“ zu einem Lesevergnügen.
Wertung: 3,9 / 5
Peter Weingartner: Wurmstichig
edition 8, Zürich 2024. 288 Seiten, 28 Euro/ca. 38 Franken
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Peter Weingartner,
ggeboren 1954 in Luzern, war nach der Ausbildung zum Sekundarlehrer bis 2017 als Lehrer tätig. Seit 1982 publiziert er Theaterstücke, Hörspiele, Kurzgeschichten und Romane. Seine Mundarthörspiele für das Schweizer Radio DRS bzw. SRF tragen Titel wie „Chnebelgrinde“, „Schwäfu“, „Mugge im Muul“ und „Herrgottsbetong“.
2019 veröffentlichte er „Derniere“, den ersten Kriminalroman mit Anselm Anderhub von der Kriminalpolizei des Kantons Luzern. Es folgten die weiteren Anderhub-Krimis „Gansabhauet“, „Familienspiel“, „Vollmondhonig“ und „Knorpel“. Der neue Titel „Wurmstichig“ ist bereits die sechste Folge der Serie.
Peter Weingartner ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er lebt in Triengen, dem letzten Luzerner Ort im Surental vor der Grenze zum Kanton Aargau (wo das Tal dann Suhrental heisst), nur wenige Kilometer von Sursee entfernt, der Kleinstadt am Sempachersee, in der sein Held Anselm Anderhub lebt.