Der einzige Zufluchtsort liegt zwei Meter unter der Erde
Der erste Satz
Als die geschälte Kartoffel in die mit Wasser gefüllte Kasserolle fiel, war ein volltönendes Pflupp zu hören, dessen Widerhall wie ein Tennisball von den Wänden der Küche zurückgeworfen wurde.
Krimi der Woche ∙ N° 40/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Das geruhsame Landleben, das sie zum Älterwerden so geschätzt hat, erfüllt Eliette immer weniger. Zu früh ist ihr Mann gestorben, die erwachsenen Kinder schauen immer weniger vorbei. Die Nachbarn, ein Bauernpaar, die einzigen in der Umgebung, die so etwas wie Freunde geworden sind, sind bieder und altmodisch. Eliette möchte sich gerne wieder mal mit einem Mann einlassen.
Da kommt Etienne gerade recht, der auf der Strasse mit leichtem Gepäck zu Fuss unterwegs ist. Er habe eine Panne gehabt, sagt er, was nicht stimmt, wie sich bald zeigt, aber Eliette nimmt ihn mal in ihrem Haus auf. Bevor sie ihn besser kennenlernen kann, kommt der Hilferuf ihrer Nachbarn: Ihr Sohn ist tödlich verunglückt, als er auf einer kleinen, kurvenreichen Strasse einem abgestellten Auto, das sich später als gestohlen erweist, ausweichen wollte.
„Zu nah am Abgrund“, so heisst der dritte Titel des 2010 verstorbenen französischen Noir-Meisters Pascal Garnier, der auf Deutsch erscheint. Zu nah am Abgrund stand nicht nur das Auto, das den tödlichen Unfall verursachte, zu nah am Abgrund steht bald auch Eliette. Denn nach diesem Tag gerät ihre Welt rasch komplett aus den Fugen. „Als wäre die ganze Welt verrückt geworden, einschliesslich mir!“, findet sie. „Nichts wird mehr so sein wie zuvor.“ „So ist das Leben nun mal, Eliette“, erklärt ihr Etienne, „man wähnt sich in Sicherheit, wie auf der Autobahn, es wird ein bisschen eintönig, man lässt sich gehen und dann … ein Steinchen, ein Insekt, und zack! Man verliert die Kontrolle, dreht sich um die eigene Achse und fährt in entgegengesetzter Richtung. Aber gut, solange man nicht tot ist, wird man schon irgendwo ankommen.“
In den tiefen Abgründen des Lebens bewegt sich auch Etiennes Tochter, die bald nach ihm ebenfalls auftaucht. Sie sucht Käufer für das Kokain, das sich Etienne unter den Nagel gerissen hat. Derweil will sich der Bauer, der im Leben zu kurz gekommen ist, nach dem Tod seines Lieblingssohns einfach nehmen, was er will. Zuerst einmal Eliette. Das kommt gar nicht gut. Am wenigsten für seinen anderen Sohn und ihn selbst.
Einmal mehr treibt Garnier, der seine Stoffe sehr dich webt – hier braucht er keine 140 Seiten –, seine Protagonisten unausweichlich in eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale. Eliette erkennt, dass es keine Gewissheiten mehr gibt, „selbst der Fliesenboden in der Toilette wirkte so vertrauenswürdig wie Treibsand“. Und Etienne sieht nur einen einzigen wahren Zufluchtsort auf der Welt, und „der lag zwei Meter unter der Erde unter einer Marmorplatte“. Noir pur.
Wertung: 4,2 / 5
Pascal Garnier: Zu nah am Abgrund
(Original: Trop près du bord. Fleuve noir, Paris 1999)
Aus dem Französischen von Felix Mayer
Septime Verlag, Wien 2024. 140 Seiten, 20 Euro/ca. 29 Franken
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Pascal Garnier
Pascal Garnier
geboren 1949 in Paris, gestorben 2010 in Valence, hat mit 15 Jahren die Schule und seine Familie verlassen. Er hat sich dann einige Jahre in der Welt herumgetrieben, vor allem in Nordafrika, im Nahen Osten und in Asien.
Mit 25 kehrte nach Frankreich zurück, wo er sich zunächst mit kleinen Gelegenheitsjobs beschäftigte, bevor er sich mit 35 der Schriftstellerei zuwandte. Ab 1996 bis zu seinem Tod veröffentlichte er rund fünfzehn Kriminalromane, daneben eine grosse Zahl von Jugendbüchern. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Längere Zeit lebte er in Lyon, dann in einem kleinen Dorf in der Ardèche im Südosten Frankreichs. Wenn er nicht schrieb oder reiste, malte er. Er starb mit 60 Jahren in einem Spital in Valence an Bauchspeicheldrüsenkrebs.