Ein Pädophilenring bedient sich im Reservat

Der erste Satz
Das Mädchen kam am Nachmittag desselben Tages zu ihm, an dem man ihm die Scheidungspapiere überbrachte – Erhalt durch Unterschrift quittiert – und ein Wunder ihm das Leben rettete.

Krimi der Woche ∙ N° 30/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Buck ist Tischler. Er baut perfekte Möbel und auch Boote. Die Weissen nennen ihn Michael Fineday, seinen Ojibwe-Namen kennt niemand. Im Moment geht es ihm beschissen. Die Frau, die er immer noch liebt, hat ihm die Scheidungspapiere zustellen lassen. Er denkt darüber nach, sein Leben zu beenden. Doch dann taucht Lucy in seiner Werkstatt auf, eine indigene 15-Jährige aus der Umgebung. Sie interessiert sich für den Bootsbau, für Holz. Buck spürt sofort, dass sie Hilfe braucht. Sein Helfersyndrom, das ihn offenbar immer wieder in Schwierigkeiten bringt, ist für seine Frau der Hauptgrund für die Scheidung. Als sie Lucy später kennenlernt, weiss sie sofort, dass das Mädchen Bucks „neues Projekt“ ist.

Um Buck und Lucy dreht sich „Das rote Kanu“, der erste Roman des US-Autors Wayne Johnson, der auf Deutsch erscheint. Buck ist offenbar schon in zwei früheren Romanen Johnsons vorgekommen, wie er in einem Interview erwähnt. In den USA ist 2023 zudem ein Prequel zum „roten Kanu“ erschienen, „The Witch Tree“, und geschrieben ist auch eine Fortsetzung, „Ray of Light“. Alle diese Romane spielen im Kosmos der Sioux in Minnesota, wo Johnson selbst teilweise in Reservaten aufgewachsen ist.

Lucy lebt in einem Trailer zusammen mit ihrem Vater. Der ist Polizist, traumatisiert von Einsätzen in Afghanistan, und er hat ein Alkoholproblem. Lucy wird von einem Kreis von Pädophilen missbraucht, dem auch Polizeikollegen ihres Vaters angehören. Ihre Freundin ist schon ums Leben gekommen, und Lucy sieht Anzeichen, dass sie und womöglich auch ihr Vater auf der Abschussliste der Übeltäter stehen. Sie will ihnen zuvorkommen und sich rächen. Mit Hilfe von Buck und zwei schlauen Freunden aus der Schule, die ebenfalls Minderheiten angehören: einer ist Schwarz, der andere Asiate.

Die düstere Country-noir-Story entwickelt sich zunächst langsam. Geschickt steigert Johnson nach und nach die Intensität und die Spannung. Das Tempo der Geschehnisse nimmt zu. Bald hängt eine ständige Bedrohung in der Luft. Und schliesslich wird das Ganze zum explosiven Action-Thriller.

Neben dem Missbrauch indigener Mädchen thematisiert Johnson in diesem komplex geplotteten Kriminalroman auch eine ganz Reihe weiterer dräuender gesellschaftlicher Probleme wie etwa schwierige Familienverhältnisse, Rassismus, Sexismus, Kriegstraumata, Armut, Minderheiten, Polizeigewalt und scheinheilige Kirchenleute. Dabei gibt es hin und wieder auch trockene Ironie, teils vielleicht auch bei der manchmal etwas dick aufgetragenen Symbolik. Etwa wenn der von seiner Ehefrau als „Heiliger“ bezeichnete Retter von Beruf Tischler ist.

Wertung: 3,8 / 5

Wayne Johnson: Das rote Kanu
(Original: The Red Canoe. Polis Books, New York 2022)
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn. Mit einem Nachwort von Jon Bassoff
Polar Verlag, Stuttgart 2024, 395 Seiten, 25 Euro/ca. 37 Franken

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Bild: ©Wayne Johnson

Wayne Johnson,

geboren 1956 in Minneapolis, Minnesota, ist gemischt indigen-amerikanischer und europäischer Abstammung. Aufgewachsen ist er im Süden von Minneapolis und in der nördlichen Seenregion von Minnesota in den Reservaten White Earth und Red Lake. An der University of Minnesota studierte er zunächst Mikrobiologe. Doch dann verfiel er in Montana dem Drachenfliegen und studierte in Bozeman Englisch und Philosophie. 1990 war er Wallace Stegner Fellow in Stanford, 1991 wurde er Teaching-Writing Fellow des Iowa Writers’ Workshop. Er ist langjähriges Fakultätsmitglied des Iowa Summer Writing Festival in Iowa City.

Seinen ersten von bisher rund einem halben Dutzend Romanen veröffentlichte er 1990: „The Snake Game“ ist ein Porträt einer Gemeinschaft von Chippewa- und Ojibway-Indianern und ihres Verfalls von den 1950er bis in die 1980er Jahre. Neben seinen belletristischen Werken hat er Bücher zu verschiedenen Themen, für die er Leidenschaften hat, veröffentlicht: „White Heat: the Extreme Skiing Life“ (2007) wurde im ersten Monat 10’000-mal verkauft. „Live to Ride“ mit dem Untertitel „The Rumbling, Roaring World of Speed, Escape, and Adventure on Two Wheels” (2010) handelt von Motorrädern und dem Motorradsport. Johnson fährt selbst eine Ducati ST-4. Um Baseball und Jugenderinnerungen aus der Zeit des Kalten Krieges geht es im autobiografischen Buch „Baseball Diaries: Confessions of a Cold War Youth“ (2013).

Wayne Johnson lebt und fährt Ski in Utah, wo er mit der Park City Ski Patrol in der medizinischen Notfallrettung tätig ist.


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