Die deutsche Meisterin des subtilen Schreckens

Der erste Satz
Auf den ersten Blick gab es nichts Bemerkenswertes in der Wohnung.

Krimi der Woche ∙ N° 43/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

In den letzten dreissig Jahren hat die deutsche Autorin Regina Nössler, geboren 1964, durchschnittlich alle knapp zwei Jahre einen Roman veröffentlicht. Ich bin – leider – erst 2019 durch den Roman „Die Putzhilfe“ auf sie aufmerksam geworden. Und ich war beeindruckt. „Das ist ganz grosse Erzählkunst, wie man ihr – zumal im deutschen Sprachraum – leider nicht oft begegnet“, schrieb ich im Zürcher „Tages-Anzeiger“. Und ich kann das heute zu Nösslers neuem Thriller „Kellerassel“ nur bestätigend wiederholen.

Wobei die meisten unter einem Thriller etwas anderes verstehen als das, was Regina Nössler liefert. Da gibt es keine hektische Action. Und keine Superhelden. Die Protagonisten sind, oder wirken zumindest so, ganz normale Menschen. Menschen, in denen man immer mal wieder auch Züge von sich selbst entdecken kann.

Im neuen Roman ist Isabel die Titelfigur, die „Kellerassel“. Sie lebt in einer Kellerwohnung, euphemistisch Souterrain genannt, in Berlin. Dass in dieser Wohnung jemand getötet wurde, was Isabel zu ihrem Glück zur Hauptmieterin machte, wird beiläufig erwähnt. Was genau da geschehen ist, erfährt man jedoch nicht.

Es ist der heisse Corona-Sommer, und Isabel, die mal da, mal dort jobbt, arbeitet zurzeit in einem grossen Impfzentrum. Bis zu deren Tod hat sie zuvor eine alte Dame aus der besseren Gesellschaft gepflegt. Aus dem Tagebuch der Dame, das sie nach ihrem Ableben mitlaufen liess, erfuhr Isabel von einem dunklen Geheimnis des Sohnes, der sie eingestellt hatte. Der erfolgreiche Unternehmer liess sich von Isabel deswegen erpressen. Seither bedroht er sie immer wieder.

Isabel ist eine, die sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt, findet ihre beste Freundin. „Wobei Isabel es nicht darauf anlegte. Im Gegenteil, sie wollte vor allem eins – ihre Ruhe haben.“ Ab und zu trifft sie einen gepflegten älteren Mann, den sie an einer Vernissage kennengelernt hat, zum Essen. Der erzählt ihr von seiner erwachsenen Tochter Antonia, die er seit sie ein Kind war nicht mehr gesehen hat. Zufällig trifft Isabel im Impfzentrum Antonia, und die beiden Frauen freunden sich an. Doch Antonia lässt sich auch auf einen etwas seltsamen Mitarbeiter des Impfzentrums ein, der Isabel nachstellt.

Nach und nach spinnt Regina Nössler ein Netz von Beziehungen. Sie beschreibt die Personen in diesem Netz nüchtern, sachlich und mit Sinn für feinen Humor. Doch schon von den ersten Sätzen an schwingt dabei ein leiser Schrecken mit. Man spürt, dass hinter dem Bild, dass die Menschen von sich zeigen, etwas brodelt. Und das zuweilen ausbricht. Auch mit bösen Folgen. Ganz sachte lässt Nössler die Geschichte eskalieren. Es kommt jedoch nicht zum grossen Showdown, der alles klärt. Manches wird zwar klarer, vieles bleibt jedoch in der Schwebe. Das ist subtiler Noir vom Feinsten.

Wertung: 4,2 / 5

Regina Nössler: Kellerassel
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2023. 344 Seiten, 12.90 Euro/ca. 20 Franken

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Bild: Konkursbuch Verlag

Regina Nössler,

geboren 1964 in Altenhunden im Sauerland, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und studierte an der Ruhr-Universität in Bochum Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften.

Sie schrieb schon in der Jugend Lyrik, dann Kurzprosa und Erzählungen und schliesslich Romane. Ihr erster Roman „Strafe muss sein“ erschien 1994 im Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke in Tübingen, für den sie auch als Lektorin und Herausgeberin tätig ist. Inzwischen hat sie nebst Bänden mit Erzählungen und einem Kinderroman sechzehn Romane veröffentlicht. Für ihren vorletzten Titel, „Die Putzhilfe“ (2019), wurde sie mit dem zweiten Preis beim Deutschen Krimi-Preis ausgezeichnet.

„Sie ist eine genaue und amüsierte Beobachterin, die in der Komik immer das Schreckliche ahnt und umgekehrt“, heisst es in einem Autorenprofil des Literaturfests „Lange Leipziger Kriminacht“. „Ihren Lesern kommen die Figuren sehr nahe, selbst in den psychischen Abgründen weniger sympathischer Protagonisten lassen sich manchmal nur zu bekannte Eigenschaften entdecken, die so weit weg von einem selbst nie sind.“

Sie lebt sei 1995 in Berlin, wo sie seit 2002 freiberuflich als Autorin und Lektorin tätig ist.


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