Alles hatte wirklich schlecht begonnen

Der erste Satz
Nach Verlassen des Flughafens Catania-Fontanarossa bog ich mit dem Mietwagen im ersten Kreisverkehr nach Norden Richtung Taormina ab.

Krimi der Woche ∙ N° 27/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Luisa will möglichst rasch das Meer sehen, nachdem sie und ihr Mann Melvil in Sizilien gelandet sind. Statt direkt nach Taormina zu fahren, wo sie ein Hotel gebucht haben, verlässt das Paar aus Frankreich die Autobahn an einer stillen Ausfahrt in Richtung Küste. Der Ort erweist sich als wenig idyllisch, geprägt von Baustellen. Auf dem Weg zurück zur Strasse nach Taormina ist es dunkel geworden, heftiger Regen trübt die Sicht. „Plötzlich gab es einen Knall. Einen heftigen Schlag gegen die Karosserie.“ Was die Ursache gewesen ist, sieht das Paar nicht. Vielleicht ein Tier? Sie fahren weiter.

Die Reise, auf die der französische Noir-Meister Yves Ravey in seinem neuen, schmalen Roman „Taormina“ Luisa und Melvil schickt, hätte eigentlich der kriselnden Ehe der beiden guttun sollen. Doch schleichend entwickelt sie sich zu einem Alptraum. Auf wenig mehr als hundert Seiten entfaltet sich die Geschichte, die wir aus Sicht von Melvil erleben, der beiläufig auch aus seiner Ehe erzählt. „Unter uns gesagt, will ich nur festhalten, dass meine Frau im Gegensatz zu mir nie gezögert hat, nahezu systematisch fremdzugehen.“

Die des Italienischen kundige Luisa entdeckt bald die Nachricht, dass in jener Nacht in der Gegend, die sie befahren haben, ein Kind aus einem nahen Flüchtlingslager angefahren und getötet worden ist. Sie findet, sie sollten zur Polizei gehen. Er ist dagegen. Hat Ausflüchte ohne Ende. Sicher sei ja nichts. Aber er sucht eine Werkstatt, die den Schaden am Wagen diskret beheben soll. Als sie auf einem Ausflug nach Agrigento wieder davon anfängt, greift er zum Smartphone, um unter einem Strassenschild ein Bild von ihr zu machen: „Ich sagte: Tut mir leid, dass dieses Kind, wenn es so ist, möglicherweise unter meine Räder gekommen ist. Auch ich bedauere das. Sehr sogar. Gib mir ein schönes Lächeln.“ Er stellt sich auf den Standpunkt: „Solange sich nichts ändert, solange uns niemand danach fragt, geht uns die Sache nichts an.“

Yves Ravey beherrscht eine beindruckend dichte, lakonische Erzählweise, in der viel schwarzer Humor mitschwingt. Trotz der knappen Form entlarvt er das Schwadronieren seiner Icherzähler. Etwa wenn er Melvil anmerken lässt: „Ich betrachtete diese schwierigen Ereignisse als eine Probe für die Belastbarkeit unserer Ehe.“

Wie schon in seinem letzten Roman „Die Abfindung“ plottet der Autor die Geschichte nach dem klassischen Noir-Muster: Die Protagonisten stecken oder geraten zu Beginn in Schwierigkeiten, und dann wird alles stetig schlimmer. Vor allem, weil sie sich durch ihr Verhalten immer tiefer in die Kalamitäten reiten. Und sie hoffen dabei immer wieder, dass sich alles noch zum Guten wende. Tut es in einem echten Noir aber nicht. Schliesslich muss sich auch Melvil eingestehen: „Es war sonnenklar, alles hatte wirklich schlecht begonnen.“

Wertung: 4,2 / 5

Yves Ravey: Taormina
(Original: Taormine. Les Editions de Minuit, Paris 2022)
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, München 2023. 112 Seiten, 20 Euro/ca. 29 Franken

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Bild: Mathieu Zazzo

Yves Ravey,

geboren 1953 in Besançon im französischen Jura unweit der Grenze zur Schweiz, war viele Jahre Professor für Französisch und für bildende Kunst am Gymnasium Stendhal in seiner Heimatstadt.

Nachdem viele seiner Manuskripte abgelehnt worden waren, erschien sein erster Roman „La table des singes“ 1989 im renommierten Verlag Gallimard, dies dank der Vermittlung durch Pascal Quignard, der zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Frankreichs zählt, im deutschen Sprachraum aber kaum bekannt ist.

Inzwischen hat Ravey 18 Romane und mehrere Theaterstücke veröffentlicht. Für „Le Drap“ (2002) wurde er 2004 mit dem Prix Marcel Aymé ausgezeichnet. 2011 erhielt er für sein Gesamtwerk den Prix Renfer – benannt nach dem Schriftsteller Werner Renfer (1898–1936) aus dem Schweizer Jura. Meisterlich zeigte sich Ravey mit dem 2022 auf Deutsch erschienenen Titel „Die Abfindung“ („Adultère“, 2021), wie jetzt «Taormina» bei Liebeskind erschienen. Zuvor sind im Verlag Antje Kunstmann zwei frühere Kriminalromane auf Deutsch erschienen: „Bruderliebe“ (2012; „Enlèvement avec rançon“, 2010 ) und „Ein Freund des Hauses“ (2014; „Un notaire peu ordinaire“, 2013). „Bruderliebe“ wurde 2013 vom deutschen WDR-Radio auch als Hörspiel umgesetzt.

Ravey schreibt in der Tradition des Roman noir, wobei er das Rabenschwarze seiner Geschichten geschickt in zunächst banal wirkenden Schilderungen versteckt. Obwohl er auf die Nennung eines konkreten Handlungsortes verzichtet, spielen die meisten Romane klar in der Region Franche-Comté um Besançon, wo der Autor nach wie vor lebt.


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