„Bis es zu spät ist“

Der erste Satz
Es war der neue Cop, der an meiner Tür klingelte, der junge Kerl, der den Job erst seit ein paar Monaten machte.

Krimi der Woche ∙ N° 16/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Ein Polizist holt Chris ab. Ihre jüngere Schwester, die 25-jährige Bella, die seit ein paar Tagen vermisst wurde, ist gefunden worden. Chris muss die Leiche identifizieren. Sie ist grausam zugerichtet, war sexuell missbraucht worden, möglicherweise tagelang. Damit beginnt ein Alptraum epischen Ausmasses für Chris. Denn die zuverlässige und allseits beliebte Bella, die ihn einem Altenpflegeheim arbeitete, war für die leichtlebige Chris, die als Kellnerin in einem lokalen Pub arbeitet, so etwas wie ein Fels in der Brandung. «Es gab einfach kein Szenario, egal wie katastrophal es sein mochte, in dem sie nicht vorkam. Ich konnte mir ein Leben ohne sie genauso wenig vorstellen wie meine eigene Nichtexistenz.»

„Ein Einzelfall“ lautet der bitter-ironische Titel des Romans der australischen Autorin Emily Maguire, der gnadenlos schildert, was so ein Verbrechen mit Angehörigen des Opfers machen kann. Mit psychologischem Verständnis, aber ohne in eine Psycho-Jargon zu verfallen oder zu dozieren, sondern direkt, unverblümt. Und sie zeigt, was die Medien aus so einem Fall mit einem hübschen Opfer machen. Ihre Schwester sei „selbst in ihrer blauen Polyesteruniform und den klobigen Holzpantoffeln das hübscheste Ding» gewesen, «das jemand in diesem Loch von einer Stadt jemals zu Gesicht bekommen würde», erfahren wir von Chris als Icherzählerin.

Der (fiktive) Ort ist eine etwas heruntergekommene Kleinstadt irgendwo etwa in der Mitte zwischen Sydney und Melbourne (kürzeste Strassendistanz zwischen den Grossstädten: 865 Kilometer). Früher, bevor die Umfahrungsstrasse gebaut war, rasteten Touristen hier, heute kommen noch die Lastwagenfahrer für vorgeschriebene Pausen. Auch vom Kleinstadttratsch und wie er mit dem brutalen Mord umgeht, handelt der Roman.

Neben den Kapiteln mit Chris als Icherzählerin stehen jene, die in dritter Person von May erzählen, einer jungen Reporterin die aus Sydney angereist ist, um über den Fall zu berichten. Sie ist gerade von ihrem verheirateten Liebhaber abserviert worden, der eigentlich bei ihr einziehen sollte. Sie ist fasziniert von Kriminalfällen, und sie scheut sich nicht, auch dreckige Details auszugraben, die Chris und deren Ex-Mann schlecht dastehen lassen. Chris verweigert sich der Journalistenmeute, doch May, die wochenlang vor Ort ausharrt und dafür sogar ihren Job hinschmeisst, bleibt hartnäckig.

Packend und bewegend erzählt Emily Maguire über das ungeheure Leid, das Chris plagt. Sie hadert ohnehin mit ihrem Leben, seit ihr Mann sie verlassen hat. Sie nimmt öfter Trucker mit nach Hause, die dafür Geld auf ihrem Nachttischchen lassen. Sie trinkt. Sie trinkt zu viel. Als sich nach der Trauerfeier für die allseits beliebte Bella die Gäste im Pub treffen, muss Chris raus. „Wenn ich da noch mal reingehe, werde ich viel trinken müssen“, sagt sie zu ihrem Ex, der zu ihrer Unterstützung hergereist ist. „Und wenn ich nach Hause gehe, werde ich auch viel trinken müssen.“

„Ein Einzelfall“ ist ein spannender Psychothriller mit feministischem, aber keineswegs missionarischem Blickwinkel. Er handelt nicht nur von einem schrecklichen Verbrechen, sondern auch von all dem Unbill, dem Frauen im Alltag ausgesetzt sind. Beide Protagonistinnen haben reichlich entsprechende Erfahrungen. Chris räsoniert einmal darüber, dass es ja nicht nur die skrupellosen Mörder gibt, sondern auch „Männer, die nicht ganz so viel Schaden anrichten und nur allzu glücklich darüber sind, das Schlimmste publik zu machen, sodass sie selbst im Vergleich harmlos wirken, und Männer, die keine Gewalt anwenden und deshalb nicht sehen, wieso es ein Problem sein sollte, was andere machen, und es gibt Männer, die wollen, dass wir über das Schlechte und Schlimmste und über ihre Gleichgültigkeit Bescheid wissen, sodass wir uns schutzsuchend an sie wenden, und es gibt Männer – mein Herz möchte sagen, dass es die meisten von ihnen sind, aber mein Herz ist das einer geschundenen, blutgetränkten Verrückten –, die reinen Herzens sind und gute Absichten haben und die nur unsere Freunde und Brüder und Liebhaber sein wollen, nur gibt es keinen Weg, diese von den anderen zu unterscheiden, bis es dafür zu spät ist, und das ist wahrscheinlich das Unerträglichste überhaupt“.

Der positive Eindruck zu diesem Buch wird durch die Übersetzung getrübt. Es irritiert, dass sich hier alle duzen, auch wenn sie sich nicht mit Vornamen ansprechen. Und ich habe nichts gegen Austriazismen in Texten von Österreichern, hier sind sie – vor allem das ständige „am“ für „auf dem“ – so unangebracht wie es Helvetismen wären. Ebenso nerven Details wie die Übersetzung von „broke“ in der Redewendung „if it ain't broke, don't fix it“ mit „gebrochen“ statt „kaputt“. Und was soll ich mir unter „verzwickt dreinschauen“ vorstellen?

Wertung: 3 / 5

Emily Maguire: Ein Einzelfall
(Original: An Isolated Incident. Pan Macmillan, Sydney 2016)
Aus dem Sprache Englischen von Roland Freisitzer
Septime Verlag, Wien 2023. 358 Seiten, 26 Euro/ca. 37 Franken

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Bild: ©privat/Septime Verlag

Emily Maguire,

geboren 1976 in Canberra, wuchs in einem westlichen Vorort von Sydney auf und studierte Literatur. Sie arbeitete bei NRMA, der australischen Version von TCS bzw. ADAC, und bei einem Telekommunikationsunternehmen, bevor sie mit Mitte 20 hauptberufliche Autorin wurde. Sie schrieb für Zeitungen und Magazine vor allem über Sex, Religion, Feminismus und Kultur.

Ihr erster Roman „Taming the Beast“ erschien 2004. Inzwischen hat sie sechs Romane veröffentlicht. Ihr fünfter Roman „An Isolated Incident“, der jetzt unter dem Titel „Ein Einzelfall“ auf Deutsch erschienen ist, stand auf der Shortlist für mehrere bedeutende Literaturpreise, darunter der Ned Kelly Award für den besten Kriminalroman. Neben den Romanen veröffentlichte sie drei Sachbücher, darunter „Your Skirt’s Too Short: Sex, Power, Choice“ (2010) und „This is What a Feminist Looks Like: The Rise and Rise of Australian Feminism“ (2019).

Emily Maguire ist in einer kirchlich orientierten Familie aufwachsen, ist aber selbst Atheistin. In ihren frühen Zwanzigern heiratete sie ihren Jugendfreund Jeff Maguire. Sie lebt mit ihrem Mann in Sydney, wo sie auch als Lehrerin und Mentorin für junge Autor:innen tätig ist.


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