Frauen, die ihre Männer mit Pick-ups überfahren

Der erste Satz
In der Tiefe einer Nacht Ende Juli bohrten die Scheinwerfer von Harley Jensens Streifenwagen einen Tunnel aus Licht über dem Highway 28 durch die Dunkelheit.

Krimi der Woche ∙ N° 44/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Wenn Deputy Sheriff Harley Jensen in der Nacht Streife fährt, wird er nicht mit viel Kriminalität konfrontiert. Ein älterer Bewohner der Kleinstadt im Norden Nebraskas will Anzeige erstatten, weil er seine Zeitung nicht erhalten hat. Eine Frau, die auf Anrufe nicht antwortet, findet Jensen verletzt am Fuss der Treppe. Es gibt zahlreiche verlassene Farmhäuser, in die sich manchmal Jugendliche schleichen. Auch das Haus, in dem der 47-jährige Polizist aufgewachsen ist und mit dem ihn eine tragische Familiengeschichte verbindet, steht leer. Plötzlich steht ein solches Haus in Flammen.

Harley ist einer der Protagonisten im Romandebüt „Pickard County“ der 1973 geborenen Chris Harding Thornton, die im ländlichen Nebraska aufgewachsen ist. Ihre Geschichte hat sie Ende der Siebzigerjahre angesiedelt. Sie beginnt langsam, entwickelt sich dann fast ohne direkte Gewalt zu einem packenden ruralen Noir über Menschen, die in ihrer Lebensgeschichte gefangen bleiben.

Im Mittelpunkt steht die Familie Reddick, traumatisiert durch den Mord am ältesten Sohn als Kind vor 18 Jahren. Der geständige Mörder wusste nicht mehr, wo er die Leiche versteckt hatte, und trotz Suchaktionen wurde sie nie gefunden. Die Mutter hat sich seither zurückgezogen, die jüngeren Brüder Paul und Rick, inzwischen erwachsen, arbeiten für ihren despotischen Vater.

Die eigentliche Hauptfigur ist aber Pam Reddick, die junge Frau von Rick, die mit ihrem Mann und der dreijährigen Tochter in einem Trailerpark wohnt. Als Kind wurde sie von ihrer Mutter «mit Geschichten über Hausfrauen gefüttert, die sich die Köpfe mit Flinten wegpusteten oder ihre Männer mit Pick-ups überfuhren und die Räder genau so ausgerichtet hatten, dass die damit über den Hals fahren konnten». Männer seien grosse Babys, hat ihre Mutter immer gesagt. Pam hat genug von Kleinkindern und möchte ausbrechen aus ihrem Leben.

So geht es in der auf wenige Tage verdichteten Handlung nicht um Verbrechen und deren Aufklärung, sondern um die Seelenlage der Menschen, die dort leben. Die kargen Landschaften und düsteren Stimmungen erinnern unweigerlich an das karge und düstere Meisterwerk „Nebraska“ von Bruce Springsteen. Auch wenn die musikalischen Bezüge im Roman bei Led Zeppelin und George Jones liegen.

Obwohl es dramatische Ereignisse und Ausbruchsversuche gibt, muss sich Pam eingestehen: «Es würde keinen Neuanfang geben. Es würde kein Haus mit einem soliden Fundament und Decken geben, die hoch genug waren, um darunter zu atmen.» Sie wird weiter in ihrer Wohnwagenwelt leben. In der ein doppelbreiter Trailer das Höchste der Gefühle wäre.

Wertung: 4,2 / 5

Chris Harding Thornton: Pickard County
(Original: Pickard County Atlas. MCD, New York 2021)
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Polar Verlag, Stuttgart 2022. 312 Seiten, 16 Euro/ca. 24 Franken

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Bild: Dana Damewood

Chris Harding Thornton,

geboren 1973 in Omaha, wuchs in einer alteingesessenen Familie im ländlichen Nebraska auf. Sie schloss die University of Nebraska in Lincoln mit dem Bachelor in Fine Arts und die University of Washington in Seattle mit dem Master in Fine Arts ab, bevor sie, wiederum in Lincoln, promovierte.

Sie arbeitete unter anderem als Verantwortliche für die Qualitätskontrolle in einer Kondomfabrik, in einer Kunststofffabrik, bei Burger King, als Verkäuferin in einem Plattenladen, als Managerin eines All-Age-Clubs und als PR-Autorin. An der University of Nebraska unterrichtet sie Literatur und Schreiben. „Pickard County Atlas“ war 2021 ihr erster Roman.


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