Zwei Frauen werden auf dem Highway gejagt
Der erste Satz
Zuerst ist da nur Geruch: nach verbranntem Gummi und Benzin..
Krimi der Woche ∙ N° 21/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger
Cait zapft Bier in einer Kneipe in der texanischen Hauptstadt Austin, um Geld zu verdienen, während sie versucht, ihre Karriere als Journalistin voranzubringen. Nach einer Nacht mit einem Musiker, der sie beim Sex brutal gewürgt hat, beschreibt sie ihr Erlebnis in einem Text, der von einem Onlinemagazin anonym abgedruckt wird. Das löst einen gewaltigen Shitstorm aus, und Hacker finden heraus, wer den Text geschrieben hat.
Cait ist auch als freiwillige Helferin engagiert bei den „Sisters of Service“, einer Organisation von „Frauen, die für andere Frauen eintraten“. Etwa, indem sie Frauen vor Demonstranten vor Abtreibungskliniken schützen. Oder Frauen in benachbarte Bundesstaaten fahren, wo die Abtreibungsregeln liberaler als in Texas sind.
Dass der Gouverneur von Texas letzte Woche ein Gesetz unterzeichnet hat, das einen legalen Schwangerschaftsabbruch faktisch fast verunmöglicht, macht den brisanten Thriller „Nachtflucht – Hinter dir der Tod“ von Jessica Barry besonders aktuell. Cait holt in Lubbock im Nordwesten von Texas mitten in der Nacht Rebecca ab, um sie ins fast 500 Kilometer entfernte Albuquerque in New Mexico zu fahren. Rebecca will ihre Schwangerschaft abbrechen, weil ihr Kind laut den Ärzten tot oder einem schnellen Tod geweiht zur Welt kommen würde. Ihr Mann, ein aufstrebender Politiker, widersetzt sich der Abtreibung. Darum geht Rebecca die Aktion bei Nacht und Nebel während einer Abwesenheit des Gatten an.
So sitzen die beiden Frauen in Caits altersschwachem Jeep. Schon bald taucht auf dem nächtlich leeren Highway ein Verfolger auf. Rebecca denkt, dieser sei vom Wahlkampfmanager ihres Mannes geschickt. Cait denkt, dass sie das Ziel ist.
Während der atemberaubenden Jagd über Hunderte Kilometer, die nicht alle Beteiligten überleben, wird durch eingestreute Rückblenden immer mehr klar über die Geheimnisse und Beweggründe der beiden Frauen. Schade ist, dass Jessica Barry dabei auf ein fast lehrbuchmässiges Cliffhangerkonzept setzt, das auf die Dauer nervt. Sie schafft eine künstliche Spannung, statt auf die Kraft ihrer Story zu vertrauen. Die Geschichte wäre stark genug. Es geht nicht nur um die Abtreibungsfrage, sondern auch um Sexismus und MeToo, um Online Mobbing und Cancel Culture. Und um Gefahren, denen Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. „Man klemmte die Schlüssel zwischen die Finger, nahm die Ohrhörer heraus, wenn man abends nach Hause ging, rechnete immer damit, dass eine Hand einen packte, dass plötzlich alles vorbei wäre. Man fragte sich immer, wer er sein würde: ein Mann, den man kannte, oder ein Unbekannter.“
Wertung: 3 / 5
Jessica Barry: Nachtflucht – Hinter dir der Tod
(Original: Don’t Turn Around. Harvill Secker, London 2020)
Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg
dtv, München 2021. 333 Seiten, 15,90 Euro/ca. 23 Franken
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Bild: Ryan Bowman
Jessica Barry
ist das Pseudonym von Melissa Pimentel. Sie ist 1982 geboren und in der Kleinstadt Hudson im US-Bundesstaat Massachusetts aufgewachsen. Sie studierte an der Boston University, bevor sie 2004 nach London zog, wo sie das University College London mit einem MA in Literaturwissenschaften abschloss und begann, in der Verlagsbranche zu arbeiten.
Bevor sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, verbrachte sie viel Zeit in der Londoner Dating-Szene und bloggte darüber. Die Dating-Erlebnisse inspirierten sie zu ihrem ersten Buch „Love by the Book“ (2015), das auf Deutsch zuerst unter dem Titel „Das Dating-Projekt“ erschien, im Taschenbuch dann als „Liebe, wie sie im Buch steht“ (Goldmann). Auch ihr zweiter Roman unter dem Namen Melissa Pimentel, „The One That Got Away“ (2016), ist auf Deutsch erschienen („Die Schwester der Braut“, Goldmann).
2019 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Jessica Barry den Thriller „Freefall“ (Deutsch: „Freefall – Die Wahrheit ist dein Tod“ (2020, dtv). Im Jahr darauf folgte der Roman „Don’t Turn Around“, der jetzt als „Nachtflucht – Hinter dir der Tod“ auf Deutsch erschienen ist.
Melissa Pimentel alias Jessica Berry lebt mit ihrem Ehemann Simon und zwei Katzen in London.