Die Retter reden viel, sagen aber nichts

Der erste Satz
Als in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1995 plötzlich Sturm aufkam, Böen von fast hundert Stundenkilometern durch die Strassen Norderneys fegten, auf dem Hafengelände Türen schlugen und die Stage und Wanten der Boote sangen, wanderten Michael Waagmanns Gedanken, wie immer, wenn er bei Sturm in seiner Koje auf Notrufe wartete, zu jener windstillen Nacht des Jahres 1974, als er Technischer Wachoffizier auf der MS Antwerpen war.

Krimi der Woche ∙ N° 19/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

An der englischen Küste werden die Überreste einer Leiche gefunden. Da das Skelett in einer Schwimmweste mit der Aufschrift „Pollux“ steckt, kann die Identität des Toten rasch geklärt werden. Als der Schlepper „Pollux“ vor gut zwanzig Jahren bei einem Sturm in der Nordsee gekentert war, konnten niederländische und deutsche Seenotretter die gesamte Besatzung bergen – bis auf einen: den Kapitän. Der wurde seither vermisst.

Die ersten Abklärungen überlässt Kommissar Liewe Cupido von der Bundespolizei See in Cuxhaven seinem neuen Mitarbeiter: Für den Süddeutschen Xander Rimbach, der zuvor an der Grenze tätig war, ist es der erste Fall am Meer. Es scheint zunächst eine eher routinemässige Ermittlung zu werden. Doch die Rettungsprotokolle der Holländer und der Deutschen erweisen sich widersprüchlich und werfen Fragen auf. Denen will Rimbach bei den deutschen Rettern auf Norderney nachgehen, muss aber schon bald mit schweren Vergiftungssymptomen in die nächste Stadt geflogen werden.

„Der Retter“ ist nach „Der Holländer“ und „Der Taucher“ der dritte Roman des niederländischen Autors Mathijs Deen“ um den deutsch-niederländischen Ermittler Liewe Cupido. Dieser stammt aus einer Fischerfamilie auf der niederländischen Insel Texel, und während Rimbach auf Norderney vergiftet wird, geht er gerade dem Tod seines Vaters vor vielen Jahren nach: Er will von den Männern, die auf dem Boot waren, von dem sein Vater ins Meer gerissen wurde, wissen, wie damals wirklich geschehen war.

Dann erweist sich der Fall des „Pollux“-Kapitäns als ziemlich komplex. Und dessen Verschwinden im Meer erinnert den wortkargen Ermittler immer wieder an das Schicksal seines Vaters. Dass die inzwischen alt gewordenen und nicht mehr aktiven Retter im Fall der „Pollux“ etwas verschweigen, wird bald klar. Doch herauszufinden, wie die Rettung, bei der nur der Kapitän unterging, genau ablief, erweist sich als schwierig. Denn die Retter reden wohl gerne viel, aber sie sagen nichts, wie es einmal heisst.

Je länger je mehr blicken die Ermittler in menschliche Abgründe, die Deen bei aller Dramatik ruhig und feinfühlig schildert. Er erzählt generell eher zurückhaltend, aber detailreich und präzise. Und er tut dies so gut, dass das nie langweilt, sondern über die ganze Strecke zu faszinieren vermag. Dazu trägt auch der leicht melancholische Grundton des Romans bei, bei dem es letztlich um Schuld geht. Und um die Frage, wie man damit leben kann.

Wertung: 4 / 5

Mathijs Deen: Der Retter
(Original: De Redder. Alfabet Uitgevers, Amsterdam 2024)
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Mare, Hamburg 2024. 378 Seiten, 23 Euro/ca. 33 Franken

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Bild: MariekeA1 / Wikimedia / CC BY-SA 4.0 DEED

Mathijs Deen,

geboren 1962 in Hengelo in der niederländischen Provinz Overijssel, studierte Niederländisch in Groningen. Als Journalist und Radioproduzent arbeitete er zunächst bei Radio Noord, einem öffentlich-rechtlichen regionaler Sender in der niederländischen Provinz Groningen. Seit 2002 produziert er Programme bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaft VPRO.

Er veröffentlichte bisher mehr als ein Dutzend Bücher, darunter neben Romanen auch Sammlungen seiner Radiokolumnen, Kurzgeschichten und Sachbücher. 2018 wurde Deen für die literarische Qualität seines Werks der Halewijnpreis verliehen. Auf Deutsch erschienen sind „Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas“ (DuMont, 2019) und „Fluss ohne Grenzen. Der Rhein – eine literarische Biographie“ (Knesebeck, 2023) sowie „Unter den Menschen“ (Mare, 2019) und „Der Schiffskoch“ (Insel, 2022). Die Kiminalromanserie um den deutsch-niederländischen Kommissar Liewe Cupido bei der deutschen Bundespolizei See in Cuxhaven erscheint auf Deutsch praktisch zeitgleich mit den niederländischen Originalen im Hamburger Mare Verlag: nach „Der Holländer“ (2022) und „Der Taucher“ (2023) jetzt „Der Retter“ (2024).

Mathijs Deen lebt mit seiner Familie in Amsterdam und auf der niederländischen Nordseeinsel Texel.


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