Korruption und Elend in Nicaragua

Der erste Satz
Die Windböen bliesen in regelmässigen Abständen und beugten die schmalen Stämme der jungen Kiefern, die sich an die nackten Hänge des Cerro de La Campagna, des Glockenbergs, klammerten.

Krimi der Woche ∙ N° 30/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Inspector Dolores Morales ist ein desillusionierten Ex-Guerillero, der in den Kämpfen gegen die Somoza-Diktatur in Nicaragua ein Bein verloren hat. Bei der Polizei wurde er später gefeuert, weil er unerbittlich den Finger auf die Korruption legte, die sich nach dem Sturz Somozas unter dem Regime von Daniel Ortega entwickelt hat. Morales war schon Protagonist zweier früherer Kriminalromane von Sergio Ramírez: „Der Himmel weint um mich“ (2008; deutsch 2015), und „Niemand weint um mich“ (2017; deutsch 2019). Letztes Jahr und jetzt auf Deutsch ist der Abschluss der Trilogie erschienen: „Tongolele konnte nicht tanzen“.

Der inzwischen als Privatdetektiv tätige Morales ist von Geheimdienstchef Anastasio Prado, genannt Tongolele, soeben nach Honduras abgeschoben worden. Tongolele tat damit einem nicaraguanischen Oligarchen einen Gefallen, gegen den Morales belastendes Material gefunden hatte. Morales kehrt über die grüne Grenze zurück und ist mit Hilfe regimekritischer Priester rasch zurück in Managua. Wo er Zeuge der brutalen Niederschlagung von Protesten von Regierungskritikern wird, bei der Hunderte von Menschen durch Paramilitärs und Polizisten erschossen wurden.

Das ist 2018 tatsächlich geschehen. Ramírez spricht in seinem Roman Klartext über die Zustände in seinem Heimatland und über Ortegas despotisches Regime. Und Ramírez ist nicht irgendwer. 2017 ist er mit Cervantes-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten Preis für spanischsprachige Literatur, und er gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Lateinamerikas. Ramírez war aber auch einer der führenden Sandinisten, ein Weggefährte Ortegas. Er war Mitglied der fünfköpfigen Regierung nach dem Sturz der Diktatur 1979 und von 1984 bis 1990 Vizepräsident des Landes.

In seinem neuen Roman erzählt er poetisch und düster, aber auch mit beissendem Humor die Geschichte vom Niedergang von Tongolele, der Intrigen von Gegenspielern zum Opfer fällt. Er macht sich lustig über esoterische Verirrungen der Regierung, die auf der anderen Seite rücksichtlos zuschlägt. Monseñor Ortez etwa, der in seinem Radio gegen die „neue arrogante, prunksüchtigen Klasse derer, die sich früher einmal Revolutionäre nannten“ predigt, wird spitalreif geprügelt und dann dank der willfährigen katholischen Kirche auf einen bedeutungslosen Posten im Vatikan abgeschoben.

„Tongolele konnte nicht tanzen“ zeigt eindrücklich das soziale Elend in Nicaragua und den Zerfall der moralischen und politischen Werte der Machthaber, die nur noch älter und korrupter werden. Der spannende Roman über eine verratene Revolution und auch seine sonstige Kritik am Ortega-Regime hatten für Ramírez letztes Jahr schwere Folgen: Wie gegen andere politische Gegner der Regierung wurde auch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen. Ramírez befand sich da aber gerade in Costa Rica und kehrte nicht mehr zurück in seine Heimat.

Wertung: 3,8 / 5

Sergio Ramírez: Tongolele konnte nicht tanzen
Original: Tongolele no sabía bailar. Alfaguara, Mexiko-Stadt 2021)
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
Edition 8, Zürich 2022. 318 Seiten, 21,80 Euro/ca. 27 Franken

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Bild: Montserrat Boix/Wikimedia CC BY-SA 4.0

Sergio Ramírez Mercado,

geboren 1942 in Masatepe im nicaraguanischen Departamento Masya, studierte an der Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua in León, wo er bei seiner Promotion in Rechtswissenschaften 1964 als bester Student ausgezeichnet wurde. Schon 1960 hatte er er seine erste Kurzgeschichte veröffentlich, 1963 ein erstes Buch mit Erzählungen. 1973 bis 1975 lebte er als Stipendiat des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin. 2001 weilte er als Gastprofessor wieder in Berlin, nachdem er zuvor schon an der University of Maryland und anderen Universitäten in den USA gelehrt hatte.

Inzwischen hat er mehr als fünfzig Bücher veröffentlicht und gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas. Seine Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, viele sind auch auf Deutsch erhältlich, darunter etwa „Maskentanz“, „Strafe Gottes“ und „Niemand weint um mich“. Den internationalen Durchbruch hatte er vor allem mit dem Roman „Margarita, wie schön ist das Meer“, für den er 1998 mit dem mit 175'000 Dollar dotierten Alfaguara-Preis ausgezeichnet wurde. Dies ist nur eine seiner zahlreichen Auszeichnungen. 2017 erhielt den vom spanischen Kulturministerium vergebenen Miguel-de-Cervantes-Preis für sein Lebenswerk.

Mindestens so bekannt wie als Autor wurde er auch als Politiker. Als Mitglied des FSLN und Initiator der „Gruppe der Zwölf“, eines Bündnisses von einem Dutzend führender nicaraguanischer Intellektueller, war er aktiv am Kampf gegen Diktator Anastasio Somoza beteiligt. Nach dem Sturz der Diktatur 1979 gehörte er der fünfköpfigen Regierungsjunta an. 1984 bis 1990 war er Vizepräsident in der Regierung von Daniel Ortega. Da er mit der Entwicklung von Ortegas Kurs nicht mehr einverstanden war, trat er aus der Partei aus und gründete die „Bewegung der sandinistischen Erneuerung“. 1996 zog er sich aus der Politik zurück und widmete sich wieder ganz der Literatur.

Vor den letzten Präsidentschaftswahlen im November 2021 liess Ortega zahlreiche Kritiker seines mittlerweile längst despotisch gewordenen Regimes verhaften. Auch gegen Ramírez, der sich nicht nur in seinem aktuellen Roman „Tongolele konnte nicht tanzen“ gegen seinen früheren Weggefährten äusserte, wurde ein Haftbefehl erlassen. Er hielt sich da jedoch gerade in Costa Rica auf und kehrte dann nicht nach Nicaragua zurück. Zurzeit lebt er in der spanischen Hauptstadt Madrid.


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