Betrug und Lügen regieren die USA
Der erste Satz
Die Seuche war so alt wie Afrika, älter als Babylon, sie wurde mit dem Licht der Sonne durch die Zeiten geweht, mit dem Mondschein und dem Zittern der Zungen, die nicht stillhalten wollten.
Krimi der Woche ∙ N° 47/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Boyd Halverson war ein erfolgreicher Journalist; der Pulitzer-Preis ging nur knapp an ihm vorbei. Bis ausgerechnet sein Schwiegervater Boyds schillernden Lebenslauf, der ihm die Medienkarriere geebnet hatte, aber so erfunden wie sein Name war, platzen liess. Denn Boyd wollte als Journalist publik machen, wie die Reederei des milliardenschweren Vaters seiner Frau Schiffe auf die Weltmeere brachte, die die minimalsten Sicherheitsanforderungen nicht erfüllten und reihenweise absoffen.
Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, in denen Boyd im (fiktiven) nordkalifornischen Fulda als Abteilungsleiter bei JCPenney Klamotten verkaufte. Und sein journalistisches Talent nebenbei dazu nutzte, zusammen mit ein paar anderen Kleinstädtern das Internet mit Fake News zu fluten. Bis er eines Tages die Lunch-Runde des Kiwanis Clubs verlässt, um die lokale Bank zu überfallen. Statt der erträumten dreihunderttausend befinden sich in der Kasse nur einundachtzigtausend Dollar. Neben der Knete nimmt er als Geisel die Bankangestellte Angie mit, mit der er sonst als Kunde gerne geflirtet hat. Obwohl ihn Angies permanenter Redefluss nervt, bleiben die beiden fortan, quasi als Gangsterpärchen, zusammen. Die Flucht führt sie zuerst nach Mexiko, dann zurück in die USA auf einen wilden Roadtrip durch das Land, in dem nicht nur die Mythomanie, „die Lügenkrankheit“, grassiert, sondern auch die Pandemie sich auszubreiten beginnt.
„America Fantastica“ heisst der erste Roman seit über zwanzig Jahren des für seine Vietnamkriegs-Geschichten preisgekrönten bald achtzigjährigen Tim O’Brien. Die Geschichte ist im Jahr 2019 angesiedelt, während der ersten Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident, der zwar namentlich nicht genannt wird, als „der Maulheld im Weissen Haus (…), der das ganze Land mit seinen ruchlosen Lügen“ überzog, die Geschichte aber stark mitprägt. Dieser Bereich ist für die zuweilen recht bissige satirische Seite des Romans zuständig. Für vergnüglichen Zynismus sorgen der nicht eben professionelle Banküberfall und dessen Folgen. Und Boyds persönliche Geschichte liefert den Noir-Teil. „Das Geld würde ihm etwas Zeit verschaffen, um ein paar persönliche Dinge zu klären. Er machte sich allerdings keine Illusionen. Ihm war klar, dass es ein böses Ende nehmen würde“, heisst es einmal. Ein andermal: „Da er keine echte Zukunft hatte, dafür aber eine Vergangenheit, über die er lieber nicht nachdenken wollte, hatte Boyd nichts zu verlieren. Oder, um es genauer zu sagen, er hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte.“
Boyd hat aber noch eine Rechnung offen mit seinem Ex-Schwiegervater, der sein Leben zerstört habe. So macht er, begleitet von der dauerplappernden Angie, Jagd auf ihn, was zu einem Roadtrip durch die USA wird. Denn der reiche Unternehmer ist von seiner Tochter vor der drohenden Rache ihres Ex‘ gewarnt worden und zieht von einem seiner Häuser ins nächste. Derweil schickt der neue Gatte von Boyds Ex, der die Geschäfte des Schwiegervaters führt, seinen Mann fürs Grobe auf Boyds Fersen. Angies (Ex-)Freund will ihn ebenso erwischen wie das Paar, dem die Bank in Fulda gehört. Dieses hat den Überfall nicht gemeldet, da Ermittler darauf stossen könnten, dass die Inhaber selbst ihr eigenes Institut plündern.
All dies und noch viel mehr bietet zumeist höchst unterhaltsamen Stoff für mehr als fünfhundert Seiten. Und gerade jetzt, nachdem Trump erneut gewählt wurde und mit den Kandidaten für sein (Horror-)Kabinett beunruhigt, bekommt „America Fantastica“ eine beklemmende Aktualität. Lügner und Betrüger, wie sie den Roman bevölkern, haben ihm realen Amerika gerade Hochkonjunktur. Sogar Tim O’Briens schrägste Phantasien klingen ob der Wirklichkeit gar nicht mehr so absurd: „Wer einen amerikanischen Pass beantragen wollte, musste ab heute eine Geisteskrankheit nachweisen.“
Wertung: 4,7 / 5
Tim O’Brien: America Fantastica
(Original: America Fantastica. Mariner Books, New York 2023)
Aus dem Englischen von Gregor Hens
HarperCollins, Hamburg 2024. 527 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken
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Tim O’Brien,
geboren 1946 in Austin im US-Bundesstaat Minnesota, zog als 10-Jähriger mit seiner Familie nach Worthington. Die Kleinstadt am Lake Okabena im Südwesten von Minnesota hatte grossen Einfluss auf seine Fantasie und seine Entwicklung als Autor; die Gegend wurde Schauplatz für einige seiner Storys.
Am Macalester College in St. Paul Schloss er 1968 mit dem BA in Politikwissenschaften ab. Er wurde dann in die US Army eingezogen und nach Vietnam geschickt, wo er von 1969 bis 1970 in jener Infanteriedivision diente, die ihm Jahr vor seiner Ankunft das berüchtigte Massaker von My Lai verübte. Nach dem Ende seiner Dienstzeit studierte er an der Harvard University.
1973 veröffentlichte er sein erstes Buch, „If I Die in a Combat Zone, Box Me Up and Ship Me Home“, über seine Erfahrungen als Soldat im Vietnamkrieg. Auch in weiteren seiner acht Romane, die er seit 1975 veröffentlichte, spielt der Krieg eine wichtige Rolle. Mehrere sind auch auf Deutsch erschienen: „Going After Cacciato“ (1978; „Die Verfolgung“, Hoffmann und Campe, Hamburg 1981); „The Things They Carried“ (1990; „Was sie trugen“, Luchterhand, München 1999); „In the Lake of the Woods“ (1994; „Geheimnisse und Lügen“, Luchterhand, München 1995); „July, July“ (2002; „Waren wir nicht glücklich“, Goldmann, München 2004). „America Fantastica“ ist sein erster Roman seit über zwanzig Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ein weiteres Buch schreibe, sei „sehr gering“, sagte er in einem Interview in der „Los Angeles Times“. Er leide an einem sehr schlimmen Karpaltunnelsyndrom, und das Tippen sei eine Qual. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet.
An der Texas State University in San Marcos unterrichtete er kreatives Schreiben. Er lebt in Austin, Texas, wo er seinen Nachlass dem Harry Ransom Center (Archiv, Bibliothek und Museum für Geisteswissenschaften) an der University of Texas übergeben hat.