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Wenn private Spender Geheimdienstaktionen finanzieren

Der erste Satz
Ihr Vormittag endete früher als geplant.

Krimi der Woche ∙ N° 43/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Jackson Lamb treibt seine lahmen Gäule weiter durch die Strassen eines düsteren London: Auf dem Bildschirm (Apple TV+) gibt es jetzt die vierte „Slow Horses“-Staffel zu sehen, nach dem vierten Roman „ Spook Street“. Der Stoff für weitere Staffeln liegt vor; in England ist für 2025 bereits der neunte Titel der Slow-Horses-Reihe von Mick Herron angekündigt. Und auf Deutsch hat Diogenes eben den siebten Band der genialen Serie aufgelegt: „Slough House“.

Ist das nicht immer ein bisschen das Gleiche?, mag sich die eine oder der andere fragen. Gewiss, ein bisschen schon. Doch diese Geschichten sind nicht nur bloody funny, sondern immer auch mit politischen Aktualitäten gespickt, und Mick Herron gewinnt der Welt der geheimen Dienste immer wieder neue Facetten ab. Zumal sich das Umfeld ja auch verändert. „Slough House“ ist im Original kurz nach dem Brexit erschienen. Der Abschied der Briten vom vereinten Europa ist zwar allgegenwärtig in dem Buch, konkret genannt wird er jedoch nicht. Wenn es darum geht, reden die Protagonisten von „Du-weisst-schon-Was“. Und eben diese unbenannten Umstände führen dazu, dass nicht mehr alles ist, wie es war. „Die Hälfte der europäischen Geheimdienste macht sich einen Spass daraus, unsere Leute auf ihre Beobachtungsliste zu setzen“, beklagt sich etwa Diana „Lady Di“ Taverner, die Chefin des Inlandgeheimdienstes MI5. „Kein Einlass aus Höflichkeit mehr, keine zugedrückten Augen bei den verdeckten Einsätzen. Keine Abkürzungen mehr durch befreundete Staaten.“

Derweil morden russische Agenten unverfroren in England. Beim Giftanschlag auf einen abgesprungenen russischen Spion, wurde ein unbeteiligtes britisches Paar vergiftet und starb (man erinnert sich – oder google es: der Fall Skripal). Taverner will Rache dafür und lässt den längst in seine Heimat zurückgekehrten Giftmörder durch einen Auftragskiller töten. Das hat Folgen. Zunächst für die Truppe ausrangierter Agenten, die im sogenannten Slough House unter dem ruppigen Regime von Jackson Lamb mit mehr oder weniger sinnloser Arbeit ihr Gnadenbrot verdient. Ein russisches Agentenpaar ist in England unterwegs, um den Tod ihres Giftmörders zu rächen. Dabei stützt es sich offenbar auf eine schon etwas veraltete Liste des Slough-House-Personals.

Jackson Lamb mag zwar seine Truppe schlecht behandeln und beschimpft sie gerne – „Euch als Spione zu bezeichnen, ist ziemlich hochgegriffen. Als würde man Farage einen Staatsmann nennen.“ –, doch wenn sich andere an seinen Mitarbeiter:innen vergreifen, machen sie sich zu ihrem erbitterten Feind. Das Mörderpaar muss gefunden werden. Und wie es überhaupt so weit kommen konnte, muss geklärt werden. Das kam offenbar, weil die ehrgeizige Geheimdienstchefin sich die nicht von oben abgesegnete Auslandaktion von privaten „Gönnern“ finanzieren liess. Und diese wollen nun Gegenleistungen. Was sie natürlich zunächst ablehnt. Was den Drahtzieher nur amüsiert: „Interessant, dass du glaubst, du hättest die Fäden noch in der Hand.“

Lamb seinerseits will die Sache nicht um der Gerechtigkeit willen klären. Sonden, um seinerseits ein Druckmittel gegen Taverner zu haben. Denn bei der Arbeit der Dienste in Herrons brillanter und keineswegs nur satirischen Reihe geht es primär um Machtspiele unter Agenten. Nicht nur gegenüber gegnerischen Diensten, sondern auch innerhalb der eigenen Organisation. Oder wie einer aus Lambs Truppe ernüchtert feststellen muss: „Das ist das Umfeld, in dem ich mich jetzt bewege. Wo Entscheidungen nicht auf Gerechtigkeit beruhen oder darauf, was für alle das Beste ist, sondern gefällt werden, weil man den Gegnern eins auswischen will, selbst wenn man auf der gleichen Seite steht.“

Die sich verändernde Welt wird nicht nur anhand von „Du-weisst-schon-Was“ und beispielweise den Gelbwestenprotesten in England gespiegelt, sondern auch global: „Die Wege, auf denen die Staatsoberhäupter heutzutage an die Macht kamen“, werden lakonisch mit „Anstiftung zu Anschlägen, Rassismus, Nepotismus und Betrug beim Golf“ beschrieben.

Wertung: 4,3 / 5

Mick Herron: Slough House
(Original: Slough House. John Murray, London 2021)
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Diogenes, Zürich 2024. 431 Seiten, 19 Euro/ca. 26 Franken

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Bild: Alberto Venzago /Diogenes Verlag

Mick Herron,

geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, studierte Englische Literatur in Oxford. Sein erster Roman war 2003 der erste Band einer Reihe um die Privatdetektivin Zoë Boehm in Oxford, von der bis 2009 vier Bände erschienen.

Mit der 2010 mit „Slow Horses“ gestarteten die Slough-House bzw. Jackson-Lamb-Serie, in der im Original bereits acht Roman vorliegen, gelang ihm der internationale Durchbruch. Die Reihe wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Reihe erscheint auf Deutsch seit 2018 bei Diogenes. Apple TV+ sendet eine auf der Romanreihe basierende TV-Serie mit Gary Oldham als Jackson Lamb. Aktuell läuft die 4. Staffel nach dem Roman „Spook Street“. Nach „Slow Horses“ (2010; Deutsch 2018), „Dead Lions“ (2013; Deutsch 2019), „Real Tigers“ (2016; Deutsch 2020), „Spook Street“ (2017; Deutsch 2021), „London Rules“ (2018; Deutsch 2022) ist jetzt der siebte Titel „Slough House“ (2021) auf Deutsch erschienen. Der achte, „Bad Actors“ (2022) ist noch nicht ins Deutsche übertragen; für 2025 ist die neunte Folge angekündigt: „Clown Town“.

Herron veröffentlichte auch vier Romane ausserhalb seiner Serien sowie Kurzgeschichtenbände. Er schreibt zudem regelmässig für Magazine. Er lebt in Oxford und gibt an, gerne Squash zu spielen.


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