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Mein Freund, der Serienmörder

Der erste Satz
Es ist ein Samstag wie jeder andere.

Krimi der Woche ∙ N° 41/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Thierry und Elisabeth, Lisa genannt, leben etwas abseits im Grünen. Es gibt nur ein anderes Haus in der Nachbarschaft. Guy und Chantal sind vor vier Jahren da eingezogen, ein nettes Paar, man hat sich inzwischen angefreundet. Guy, der sich ebenfalls gerne handwerklich betätigt und sich für Insekten interessiert, ist Thierrys bester Freund geworden. Eigentlich sein einziger, denn er tut sich etwas schwer mit anderen Menschen.

Als er an einem Samstagmorgen das Haus verlassen will, sieht er ein Sonderkommando der Gendarmerie nationale anrücken und das Nachbarhaus umstellen. Thierry ist entsetzt: Was bloss ist seinen Freunden passiert? Capitaine Bretan fordert ihn auf, in Deckung zu gehen. Was los ist, sagt er nicht. Schliesslich werden Guy und Chantal abgeführt. Aus dem Fernsehen erfahren Thierry und Lisa später, dass ihre Nachbarn für das Verschwinden einer ganzen Reihe von Mädchen und jungen Frauen verantwortlich sind.

Was macht das mit einem, wenn sich der beste Freund als brutaler Serienvergewaltiger und -mörder erweist? Dieser Frage geht die französische Autorin Tiffany Tavernier in ihrem Roman „Der Freund“ nach. Es ist ein beklemmender Noir-Psychothriller, eine Serienkillergeschichte ungewohnter Art. Hier geht es nicht um die Suche nach einem Täter, nicht darum, wie er seine Opfer aussuchte und was er ihnen antat, nicht um die Motive des Mörders. Es geht um die Auswirkungen der Verbrechen auf die an sich unbeteiligten Nachbarn. Vor allem auf Thierry, der in seinem Freund Guy einen Typen sah, der ähnlich tickte wie er.

Mit Thierry als Icherzähler gelingt es Tiffany Tavernier, dessen Seelenpein ebenso eindringlich darzustellen wie seine Abneigung, sich auf andere Menschen einzulassen. Dass Reporter:innen ihr Haus belagern und von Thierry und Lisa wissen wollen, wie die Nachbarn waren, ist ziemlich übel. Noch schlimmer sind für Thierry die eigenen Zweifel: Hätte er nicht etwas merken sollen? Erst jetzt fällt ihm auf, dass Guy und Chantal keine anderen Freunde hatten, nie von Verwandten sprachen oder von ihrem Leben, bevor sie hierhergezogen sind. Und dass sich Guy von Thierry immer wieder Werkzeug borgte, bekommt eine neue Bedeutung. Und wofür nur war das Loch, das er ihm graben half?

Thierry spricht mit niemandem darüber. Er stürzt sich in seine Arbeit – er ist in einem Industriebetrieb für die Wartung und Reparatur der Maschinen verantwortlich –, wo sich seine introvertierte Art, sein Desinteresse an den Arbeitskollegen, verschärft. Für Lisa, die mit Thierrys eigenbrötlerischer Art schon zuvor immer mehr Mühe hatte, wird es nun definitiv zu viel. Sie könne hier nicht mehr leben, sie wolle das Haus verkaufen. „Ich pflanze Bambus an. Dann sieht man nichts mehr“, sagt er. „Bambus! Liebe Güte, ich glaube nicht, dass du es verstanden hast. Selbst wenn ihr Haus abgerissen werden sollte, würde ich jedes Mal wenn ich aus diesem Fenster sehe, daran erinnert werden!“ Lisa zieht aus. Bei der Arbeit wird Thierry beurlaubt, weil die Kollegen nicht mehr mit ihm arbeiten mögen. Er fährt an den Ort, wo er als Kind seinem Grossvater auf dem Bauernhof geholfen hat. Und versucht zu ergründen, wie es kommen konnte, dass er in Guy einen Menschen wie sich selbst sieht.

Wertung: 4 / 5

Tiffany Tavernier: Der Freund
(Original: L’Ami. Sabine Wespieser Editeur, Paris 2021)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2024. 262 Seiten, 26 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Sophie Bassouls/Lenos Verlag

Tiffany Tavernier,

geboren 1967 in Frankreich, ist die Tochter der Drehbuchautorin Colo Tavernier (1942–2020) und des Filmregisseurs Bertrand Tavernier (1941–2021). Als Kind spielte sie in zwei Filmen ihres Vaters mit, „L’Horloger de Saint-Paul“ (1974) und „Des enfants gâtés“ (1977), später auch in „Un dimanche à la campagne“ (1984).

Als 17-Jährige reiste sie für einen humanitären Einsatz nach Indien. In ihrem ersten Roman „Dans la nuit aussi le soleil“ (1999) beschrieb sie ihre Erfahrungen, die sie in den Sterbehäusern von Kalkutta machte. Bevor sie Schriftstellerin wurde, war sie vor allem als Regieassistentin für Film und TV tätig. Sie bereiste die Welt, insbesondere die Arktis, wo ihr zweiter Roman „L’homme blanc“ spielt. Zusammen mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Dominique Sampiero, schrieb sie zwei Drehbücher für Filme ihres Vaters: „Ça commence aujourd’hui“ (1999) und „Holy Lola“ (2004).

Inzwischen hat sie zehn Romane veröffentlicht, der jetzt auf Deutsch erschienene Titel „Der Freund“ („L’Ami“, 2021) ist ihr neunter.


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