„Eine böse schwarze Komödie im doppelten Wortsinn“
Der erste Satz
„So ein verfickter Scheiss! So ein verfickter, beschissener Scheiss-Bullshit!“
Krimi der Woche ∙ N° 38/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Reggie Brogus ist total aufgebracht, als er seinen Professorenkollegen Clay Robinette aus dem Schlaf reisst. Man wolle ihm etwas anhängen. Clay müsse mitkommen und sehen, was sie in seinem Büro am Afrikamerika-Institut der Uni deponiert haben. Genaueres bringt Clay nicht aus Reggie heraus und lässt sich schliesslich darauf ein, ihn zu begleiten. Im Büro des früheren Bürgerrechtsaktivisten, der sich zum Rechtsaussen gewandelt hat, liegt dann nicht etwa ein Paket Drogen oder etwas ähnlichs, wie Clay erwartet hatte, sondern eine Leiche. Eine nackte, weisse Frau mit roter Mähne. Clay erkennt sie: Es ist Jenny, die Studentin, mit der er eine verbotene Beziehung hat.
So beginnt der Roman „Das schwarze Chamäleon“ des seit über dreissig Jahren in Frankreich lebenden Afroamerikaners Jake Lamar, den der Hamburger Krimiautor und Übersetzer Robert Brack für die deutschsprachige Welt entdeckt und ausgegraben hat. (Im Nachwort schildert er die komplizierte Suche nach dem Autor, der auf X bzw. Twitter in wenigen Sekunden zu finden gewesen wäre.) Das Original „If 6 Were 9“, vor über zwanzig Jahren erschienen, war Lamars vierter Roman und sein erster Krimi.
Zunächst flieht Reggie, der als Hauptverdächtiger gilt. Am Ende kennt man zwar den Täter, aber ein klassischer Whodunnit ist „Das schwarze Chamäleon“ nicht. Es ist vielmehr ein höchst unterhaltsames Gesellschaftsdrama, das charmant-ironisch die Campus-Welt und insbesondere die Schwarze Community darum herum auf die Schippe nimmt. Dafür sorgt das geschickt gewählte und mit scharfem Blick skizzierte Personal der Geschichte.
Da ist zuallererst Clay Robinette, der Icherzähler. Als Journalist ist der Afroamerikaner in Ungnade gefallen, weil er ein paar Zitate gefälscht hat. Jetzt unterrichtet er an einer Provinz-Uni in Ohio ironischerweise „Creative Non-Fiction“. Er ist Familienvater. Seine Frau bringt Firmen und Institutionen Diversity bei – und das schon Anfang der Neunzigerjahre. Reginald „Reggie“ T. Brogus war in den Sechzigern ein radikaler Aktivist für die Sache der Schwarzen, war eine Zeitlang verschwunden und kehrte als grossmäuliger Rechtsaussen zurück, der nicht falsch findet, dass Rodney King von Cops verprügelt wurde. Er wirkt paranoid, fühlt sich von Geheimdiensten verfolgt. Der Leiter der Universität, an der Robinette und Brogus tätig sind, stellt seine Professoren nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach marketingtechnischen Kriterien ein: Man muss sich im Gespräch halten, damit reiche Eltern ihre Kinder an sein Institut schicken. Von „unserem afrikanischen Erbe“ redet die Dozentin Kwanzi Authentica Parker gerne, die immer bunte afrikanische Kleider trägt. Geboren ist sie in New Jersey. Ihr Mann ist ein weisser Brite, der ebenfalls an der Uni unterrichtet. Die schöne Leiche ist eine europäische Studentin, die sich nach der „Dreigroschenoper“ Seeräuber-Jenny nennt. Sie versucht, die von diesen selbstgezogenen Grenzen zwischen weissen und Schwarzen Student:innen zu überwinden.
Neben dem allgemeinen Gerangel unter dem Lehrpersonal widmet sich Lamar insbesondere den Verhältnissen zwischen den Afroamerikaner:innen und deren Befindlichkeiten. Dem eigentlichen Rassismus kommt eher eine Nebenrolle zu. Zuweilen wird die Geschichte zu einer brillanten Politsatire. „The New York Times Book Review“ brachte es treffend auf den Punkt: „Das schwarze Chamäleon“ ist „eine böse schwarze Komödie im doppelten Wortsinn“.
Wertung: 4,5 / 5
Jake Lamar: Das schwarze Chamäleon
(Original: If 6 Were 9. Crown, New York 2001)
Aus dem Englischen von Robert Brack
Edition Nautilus, Hamburg 2024. 326 Seiten, 22 Euro/ca. 33 Franken
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Jake Lamar,
geboren 1961 in New York, wuchs in der Bronx auf. Nach dem Abschluss des Studiums an der Harvard University war er während sechs Jahren als Journalist für das Magazin „Time“ tätig.
Sein erstes, autobiografisches Buch „Bourgeois Blues“ (1991) wurde mit dem Lyndhurst-Preis ausgezeichnet. Inspiriert durch amerikanische Autoren wie F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Gertrude Stein, Richard Wright und James Baldwin zog er 1993 nach Paris, wo er seither im 18. Arrondissement lebt. Inzwischen hat er acht Romane veröffentlicht.
„If 6 were 9“ (2001) war sein viertes Buch und der erste Kriminalroman – und jetzt sein erster Titel auf Deutsch: „Das schwarze Chamäleon“. Sein neuester Krimi „Viper’s Dream“, der in der Jazzszene in Harlem zwischen 1936 und 1961 spielt, erschien 2021 auf Französisch und erst 2023 auf Englisch; 2024 wurde er mit dem CWA Historical Dagger Award geehrt. In seiner neuen Heimat ist er ein bekannter Autor, in den USA kennt man ihn nur wenig. Zurzeit arbeitet er an einem autobiografischen Buch über sein Leben in Paris.
Jake Lamar unterrichtet an der Universität Science Po in Paris kreatives Schreiben. 2015 wurde er, zwei Tage nach seinem 54. Geburtstag, mit einem lebensbedrohenden Herzproblem ins Spital eingeliefert. Nach mehreren Monaten Rekonvaleszenz schrieb er für die „Los Angeles Times“ einen Artikel, in dem er die Qualität des französischen Gesundheitswesens lobte.