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Gruselige Grausamkeiten

Der erste Satz
„Entsorg mich mit dem Müll“, sagte er immer.

Krimi der Woche ∙ N° 29/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Sally Diamond ist etwas seltsam. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sie Sachen wörtlich nimmt, die nicht so gemeint sind. Ihr Adoptivvater, mit dem sie mit über vierzig noch zusammenlebt, sagte jeweils: „Wenn ich sterbe, kannst du mich einfach mit dem Müll entsorgen. Ich bin dann ja tot, für mich macht das keinen Unterschied mehr.“ Als der alte Mann, der keine Ärzte sehen wollte, dann eines morgens tot im Bett lag, tat Sally, was im Hause Diamond mit dem Müll gemacht wurde: Man verbrannte ihn in der Scheune hinter dem Haus in einem alten Fass.

„Seltsame Sally Diamond“ heisst der neue Roman von Liz Nugent. Die irische Autorin zeigte schon in „Kleine Grausamkeiten“ (2021), dass sie es meisterhaft versteht, dysfunktionale Familienverhältnisse zu sezieren. Eingebettet in einen raffiniert gezirkelten Plot erzählte sie packend und mit schwarzem Humor von ganz und gar absonderlichen und erschreckenden Verhältnissen und Ereignissen. Im Vergleich zum neuen Buch sind die „Grausamkeiten“ im Vorgänger jedoch wirklich eher klein. Dass Sally ihren toten Dad selbst verbrennen will, gehört in der neuen Geschichte zu den eher harmloseren, gar schon etwas lustigen Vorfällen.

Sallys frühe Kindheit war grauenhaft. Sie ist das Kind einer jungen Frau, die Jahre vorher, selbst noch ein Kind, von einem Mann entführt und seither eingesperrt gehalten worden war. Als der Entführer fliehen musste, kamen Mutter und Kind frei, beide schwer traumatisiert. Nach langer Zeit in der Psychiatrie wollte man Mutter und Tochter trennen. Die Mutter überlebte das nicht. Die Tochter wurde vom behandelnden Psychiater und dessen Frau adoptiert und bekam einen neuen Namen. Und wurde vom neuen Vater offenbar mehr als Fallstudie denn als Tochter behandelt und von anderen Menschen weitgehend isoliert. Mit 43 Jahren verhält sich oft noch wie ein Kind. Entschuldigend verwendet für sich gerne auch die Bezeichnung „sozial defizitär“, die von ihrem Psychiater-Dad stammt.

Sally erinnert sich, was ihr Dad gefördert hat, nicht an die Zeit vor der Adoption. Doch als die Medien von der Verbrennung des Verstorbenen berichten, wird bekannt, dass die seltsame Sally das Kind aus dem Entführungsfall, der damals Schlagzeilen gemacht hatte, ist. Während sie nach dem Tod des Vaters als 43-Jährige lernen muss, ein selbständiges Leben zu führen, versucht Sally auch, ihrer eigenen Geschichte, der ihrer Mutter und derjenigen ihres leiblichen Vaters, des Entführers, nachzugehen – und sie will ihren bis heute nicht gefassten leiblichen Vater finden. Dabei tun sich neue Abgründe auf. Als auch noch ein Bruder auftaucht, den der Entführer mit ihrer Mutter gezeugt hatte, freut sich Sally zunächst, doch noch so etwas wie Familie zu haben. Doch der ein paar Jahre ältere Bruder ist tief verstrickt in die Grausamkeiten seines Vaters.

Nach und nach eröffnen sich im Verlauf der Geschichte für Sally neue Erkenntnisse über sich und ihre Familie(n). Zu Beginn des virtuos geplotteten Psychothrillers ist sie die alleinige Icherzählerin, dann stösst ihr Bruder Peter als zweiter Icherzähler dazu.

Das ist zwar verdammt harter Stoff, doch Liz Nugent versteht es, etwa durch den zuweilen etwas naiven Blick von Sally, verstörendste Erlebnisse nicht nur erträglich zu schildern, sondern auch spannend und mit leisem Humor. Und man erlebt mit, wie solch wahrlich gruseliger Missbrauch nicht nur die direkt Betroffenen schwer traumatisiert, sondern auch für ihr (neues) Umfeld immer wieder zu schwierigen Herausforderungen führt. Meisterlich!

Wertung: 4,6 / 5

Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond
(Original: Stange Sally Diamond. Sandycove/Penguin, Dublin 2023)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl, Göttingen. 391 Seiten, 26 Euro/ca. 36 Franken

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Bild: ©Liz Nugent / www.liznugent.com

Liz Nugent,

geboren 1967 in Dublin, Irland, besuchte eine katholische Privatschule. Nach der Schulzeit zog sie zunächst nach London. Zurück in Irland absolvierte sie einen Schauspielkurs an der Gaiety School of Acting, wechselte aber bald ins Stage Management.

Als Stage Manager der Show „Riverdance“ tourte sie durch die ganze Welt. Danach arbeitete sie bei RTÉ, dem nationalen irischen Radio und Fernsehen, unter anderem für die Soap „Fair City“. Sie schrieb verschiedene Texte und Drehbücher für TV-Sendungen, Hörspiele und Theaterstücke.

2014 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Unravelling Oliver“ (Deutsch: „Die Sünden meiner Väter“, Bastei-Lübbe), der sehr erfolgreich war. Bestseller in Irland waren auch die mit mehreren Preisen ausgezeichneten Bücher „Lying in Wait“ (2016) und „Skin Deep“ (2016). „Our Little Cruelties“ (2021) war auch auf Deutsch unter dem Titel „Kleine Grausamkeiten“ (2021, Steidl) erfolgreich, und der Verlag legte danach „Lying in Wait“ auf Deutsch nach („Auf der Lauer liegen“, 2022). „Strange Seltsame Sally Diamond“ (2023; „Seltsame Sally Diamond“, 2024) ist ihr fünfter Roman. Ihre Bücher werden inzwischen in 15 Sprachen übersetzt.

Als sie sechs Jahre alt war erlitt Liz Nugent eine Hirnblutung, als Folge leidet sie seither an Dystonie, einer seltenen neurologischen Erkrankung. Sie lebt in Dublin.


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