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Um besser zu werden, muss es viel schlechter werden

Der erste Satz
Das Debriefing dauerte zehn Tage in einer abgeriegelten Suite in der alten Sektion des Letterman General Hospital der Army auf dem Presidio in San Francisco, und als es beendet war, galt das auch für meine Karriere – falls man sie so nennen konnte.

Krimi der Woche ∙ N° 28/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Kaum ist Lucifer Dye vom Geheimdienst entlassen worden, nachdem eine Aktion in Asien schiefgelaufen ist, bekommt er in den USA ein lukratives Angebot. Der als geniale Schnelldenker geltende junge Victor Orcutt will ihn in seinem kleinen Team, mit dem er eine korrupte Kleinstadt an der texanischen Golfküste säubern soll. Zu Orcutts Truppe gehören zudem der ehemalige Polizeichef Homer Necessary, wegen Korruption entlassen, und die Ex-Prostituierte Carol Thackerty.

„Um besser zu werden, muss es viel schlechter werden“, ist Orcutts Devise. Darum soll das Team mit fiesen Intrigen und gewissenlosen Nötigungen die Korruption in Swankerton noch verschärfen. Dye bietet sich dafür sogleich der von der Mafia kontrollierten inoffiziellen Stadtregierung als Doppelagent an. Schon bald sieht er sich als Dreifachagent. Und irgendwie scheint er auch für sich selbst zu arbeiten.

„Die Narren sind auf unserer Seite“ vom grossartigen amerikanischen Autor Ross Thomas (1926–1995) ist im Original 1970 erschienen. Den Titel für den fulminante Politthriller lieferte ein Zitat aus Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“: „Ham wir denn nicht alle Narren inne Stadt auf unserer Seite? Un ist das nich in jede Stadt ne ausreichend grosse Mehrheit?“; im Original: „Hain't we got all the fools in town on our side? And ain't that a big enough majority in any town?”

Es ist der umfangreichste Roman von Thomas. Er blendet weit zurück im Leben des 1933 geborenen Icherzählers Lucifer Dye, was die Gelegenheit gibt, allerlei spannende und witzige, bösartige und berührende, knallharte und auch romantische Geschichten zu erzählen. Dye ist, nachdem er als Kind seine Eltern verloren hat, in einem von einer Russin geführten Bordell in Shanghai aufgewachsen. Nach der Invasion der Japaner geriet er zusammen mit einem mit der Bordellchefin befreundeten amerikanischen Journalisten, der ihn als seinen Sohn ausgab, in Kriegsgefangenschaft. Als junger Mann ist er längst mit allen Wassern gewaschen und wird in den USA von einem Geheimdienst angeworben.

Doch Verluste prägen sein Leben. Zuerst stirbt die Mutter. Der alleinerziehende Vater wird bei einem Spaziergang mit dem kleinen Lucifer in Shanghai auf offener Strasse getötet. Dann wird Lucifer von seiner Ersatzmutter getrennt. Später wird die Frau, die er liebt – die Tochter des Offiziers, der ihn für den Geheimdienst angeworben hat –, erschossen. Das alles hat ihn zynisch und skrupellos gemacht, womit er bestens in Orcutts Truppe passt. Deren Mitglieder aber im ganz persönlichen Bereich auch Feingefühl zeigen.

„Die Narren sind auf unserer Seite“ ist der 24. und damit vorletzte Titel in der verdienstvollen Ross-Thomas-Werkausgabe des Berliner Alexander Verlags. Teile davon sind schon 1972 unter dem Titel „Unsere Stadt muss sauber werden“ auf Deutsch erschienen. Um in das damalige Krimi-Standardformat des Ullstein Verlags von 144 Seiten zu passen, wurde mehr als die Hälfte des Romans weggekürzt: Nur gerade 41 Prozent des Originalinhalts umfasste die Ausgabe, wie Alf Mayer im Online-Magazin „CrimeMag“ vorrechnet. Für die erste vollständige Veröffentlichung wurde der Roman durch Vater und Sohn Haefs komplett neu übersetzt.

Das liest sich, wie sowieso alle Thomas-Romane, ganz wunderbar. Der eher lockere Tonfall, der trockene Humor, die zahlreichen beiläufigen Reflexionen und Beobachtungen zu Politik und Gesellschaft gehören ebenso zu Thomas’ Markenzeichen wie der schlaue Plot und die messerscharfen Dialoge. „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist einer seiner besten Romane. Und auf jeden Fall der beste Thriller, der mir in diesem Jahr bisher untergekommen ist.

Wertung: 5 / 5

Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite
(Original: The Fools in Town Are on Our Side. Morrow, New York 1970)
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs und Julian Haefs
(Die massiv gekürzte deutsche Erstausgabe, übersetzt von Heinz F. Kliem, erschien 1972 bei Ullstein unter dem Titel „Unsere Stadt muss sauber werden“)
Alexander Verlag, Berlin 2024. 580 Seiten, 20 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Patricia Williams

Ross Thomas,

geboren 1926 in Oklahoma City, gestorben 1995 in Santa Monica, Kalifornien, war im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf den Philippinen. Er arbeitete unter anderem als Journalist in den USA, in Deutschland und in Nigeria. In den 1950ern baute er in Bonn das Büro des amerikanischen Radiosenders AFN auf. Später war er PR- und Wahlkampfberater für Politiker wie Lyndon B. Johnson sowie Gewerkschaftssprecher.

Erst mit 40, nach jahrelangen intimen Einblicken in den Politbetrieb, begann er mit dem Schreiben von Politthrillern. Für seinen ersten Roman „The Cold War Swap“ („Kälter als der kalte Krieg“) wurde er 1967 mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Erstling ausgezeichnet; einen weiteren Edgar erhielt er 1985 für „Briarpatch“ („Dornbusch“). Von 1966 bis 1994 schrieb Thomas 25 Politthriller und Kriminalromane, darunter unter dem Pseudonym Oliver Bleeck fünf Romane um den Go-Between Philip St. Ives. Ab 1982 schrieb er auch Drehbücher für TV-Serien.

Alle Romane von Ross Thomas, die ursprünglich auf Deutsch oft nur stark gekürzt herausgegeben worden sind, erscheinen seit 2005 im Berliner Alexander Verlag in einer originalgetreuen deutschen Werkausgabe. Der jetzt neu erschienene Titel „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist bereits der 24. Band dieser verdienstvollen Werkausgabe und damit der vorletzte.

Von 1975 bis zu seinem Tod als Folge von Lungenkrebs zwei Monate vor seinem 70. Geburtstag lebte Ross Thomas mit seiner zweiten Frau im Strandort Malibu bei Los Angeles.


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