Eine Stiftung in Zürich dient Drogenhändlern und Geldwäschern
Der erste Satz
Ein abgetrennter Kopf.
Krimi der Woche ∙ N° 11/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Vor zwei Jahren hat ihr Romandebüt „Davenport 160 x 90“ Furore gemacht. Die damals fast 60-jährige deutsche Autorin Sybille Ruge verblüffte mit einer bösen Geschichte und einem frischen Ton. Nun brennt sie auch in ihrem zweiten Noir-Roman „9 mm Cut“ ein Feuerwerk von scharfsinnigen Betrachtungen zur Gesellschaft und zum Leben an sich, von geistreichen Reflexionen und witzigen Metaphern ab.
Wie die Geldeintreiberin Sonja Slanski im ersten Werk ist die Protagonistin auch hier eine furchtlose Frau, die von ihren Kunden für spezielle Aufträge angeheuert wird. Sie ist in verschiedenen Metiers beschlagen und kennt sich auch mit Kampftechniken aus. „Meine Methode folgt im weitesten Sinn der systemischen Therapie, setzt also auf Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten“, erläutert sie ihre Arbeitsweise. „Die vertraulichen Einzelsitzungen zur Konsensfindung leite ich mit einer Grundsatzfrage ein. Möchtest du eine Invalidenrente? Eine Win-win-Situation, besonders aufgrund der geringen Bürokratie.“
Nach Zürich reist sie unter dem Decknamen Eve Klein im Auftrag von K2, wie sie ihn nennt, was Kunde 2 bedeutet. Wellinghofen gehört ein Lebensmittelkonzern in Deutschland. In Zürich hat er eine Stiftung namens Interni. Ein Hilfswerk, wie er sagt. Da scheinen aber eher die Leiter sich selbst zu helfen als Bedürftigen. „Überhöhte Reinigungskosten. Interni Stiftung nicht ganz sauber?“, titelte „20 Minuten“. Eve Klein, vom Stifter angeblich entsandt, um Praktikanten auszuwählen, soll inkognito die Lage überprüfen.
Untergebracht wird sie bei Karnofsky, Wellinghofens Statthalter in Zürich, in einem alten Haus am See. Karnofsky, ein Alkoholiker, lebt da mit seiner Frau Helena, die nicht zufällig Hell genannt wird, und ihren Zwillingstöchtern. Inzwischen ist der Geschäftsführer der Stiftung erschossen worden. Wenig später liegt der Kopf seines Stellvertreters vor dem Sitz der Stiftung. Die beiden haben das „Hilfswerk“ offenbar als Fassade für ihren Drogenhandel benutzt. Doch auch sonst gibt es Zweifel am hehren Tun der Stiftung. Junge Menschen, denen mit einem Praktikum eine tolle Chance geboten werden soll, sind am Ende billige Arbeitskräfte. Und die Schule, für die Millionen nach Mali flossen, wurde nie gebaut. Offenbar Geldwäsche. Und im alten Haus am See erlebt Eve Klein allerhand bizarre Szenen.
Nach einer virtuosen Vorlage wie „Davenport 160 x 90“ ist es nicht einfach, adäquat nachzulegen. „9 mm Cut“ hängt, im Vergleich zum brillanten Vorgänger, zwischenzeitlich leicht durch, und der Sprachwitz scheint teils Selbstzweck zu sein. Doch man liest die prägnanten Lebensweisheiten wie „Idyllen tendieren zum Einsturz.“, „Das Leben, eine Realityshow ohne vernünftigen Schnitt.“ oder „Weight Watchers oder Sadomaso, mit Ritualen bekommt man das Leben in den Griff.“ gerne. Und Ruges Vergleiche lassen einen immer wieder schmunzeln, wenn nicht gar dreckig lachen. Nur drei Beispiele von vielen:
Sie hatte so eine Art Lache, die einem Schnarchen ähnlicher war als einer Gefühlsbekundung, ein lautes Geräusch, bei dem man unwillkürlich Hilfe leisten wollte.
Sanjay starrte mich an, als wären meine Augen Gullilöcher, in denen er nach seinem Kleingeld suchte.
Ihre Gesichter zeigten keine Emotion. Sie starrten auf den Fernseher, als hätte man sie mit einer Marx/Engels-Gesamtausgabe zurückgelassen.
Was es mit dem seltsamen Titel auf sich hat, wird gegen Ende des Buches aufgelöst. Er bezeichnet das Resultat des Wirkens des Rasenmähroboters im Garten des Hauses am Zürichsee.
Wertung: 4 / 5
Sybille Ruge: 9 mm Cut
Suhrkamp, Berlin 2024. 232 Seiten, 17 Euro/ca. 25 Franken
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Sybille Ruge,
geboren 1963 in der Kleinstadt Meiningen im Süden Thüringens in der DDR, studierte Schauspiel an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig. Am Theater im Palast der Republik in Osterberlin war sie als Kostümbildnerin tätig. Als Schauspielerin wirkte sie im Film „Motivsuche“ von Dietmar Hochmuth mit, der in den letzten Monaten der DDR gedreht wurde.
Seit vielen Jahren arbeitet sie als Textildesignerin und -entwicklerin. Unter anderem war sie 1997 bis 2003 Creative Director bei Taunus Textildruck Zimmer in Oberursel. Seit 2003 ist sie in Frankfurt als Designerin und Beraterin für textile Innenausstattung im High-End-Bereich tätig.
Mit ihrem Romandebüt „Davenport 160 x 90“ machte Sybille Ruge 2022 Furore. Das Buch wurde mit dem Glauser-Preis 2023, mit dem Stuttgarter Krimipreis 2023 ausgezeichnet und mit dem dritten Platz beim Deutschen Krimipreis in der Kategorie „National“. Und er stand auf der Krimibestenliste für das Jahr 2022 auf dem zweiten Platz.w „9 mm Cut“ ist ihr zweiter Roman.
Laut dem Suhrkamp Verlag ist sie auch Lyrikerin. Und sie liebe „Raumfahrt, Soziologe und die Texte von Heiner Müller“. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Zürich.