Im Regenwald lauert der Tod
Der erste Satz
Das Kind drohte abzustürzen.
Krimi der Woche ∙ N° 02/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger
Nach dreissig Jahren kehrt Callum Haffenden erstmals zurück in den Ort, in dem er aufgewachsen ist. Die Meldung, dass dort, in der Kleinstadt Granite Creek im tropischen Norden Australiens, ein dreissigjähriger Mann im Regenwald – in dem schon manche Einheimische ihr Leben oder Teile davon verloren haben – verschwunden ist, hat ihn aufgeschreckt. Er will sich der Suchaktion anschliessen. Denn er geht davon aus, dass der Mann, den er noch nie getroffen hat, sein Sohn ist.
So beginnt „Der flüsternde Abgrund“, der erste Roman von Veronica Lando. Er führt in ein zuweilen undurchschaubar scheinendes Gewirr von Beziehungen und von düsteren Geheimnissen in dem kleinen Ort, in dem eigentlich jede und jeder glaubt, jeden und jede zu kennen.
Schon bald wird die Leiche des Vermissten gefunden. Was Fragen aufwirft: War es ein Unfall? Ist er selbst gesprungen? Hat ihn jemand gestossen? Obwohl er in Granite Creek ausser seinem alten Schulfreund, der gerade die örtliche Polizeiwache übernommen hat, fast niemandem willkommen ist, will Callum bleiben und sich an den Ermittlungen beteiligen.
Callum ist selbst in den Felsen im Regenwald verunfallt. Als Neunzehnjähriger verlor er dabei ein Bein. Seine Eltern zogen dann mit ihm in den Süden, wo er bessere Betreuung erhalten sollte. Eigentlich wollte er in die Fussstapfen des Vaters treten, doch mit einer Beinprothese konnte er nicht mehr Polizist werden. Im Süden machte er Karriere als Journalist. Was ihn manchen Menschen in Granite Creek suspekt macht. Einen der da rumschnüffelt, will man nicht. Denn, so erkennt Callum rasch: „Jeder hatte hier etwas zu verbergen.“
Es braucht zuweilen etwas Konzentration oder zumindest gute Aufmerksamkeit, um die Übersicht über das Personal dieses leidlich spannenden Psychothrillers nicht zu verlieren. Und in welchen Verhältnissen zueinander sie stehen. Laufend gewinnt Callum dazu neue Erkenntnisse, die aber nicht immer zuverlässig sind und ihn zuweilen auf falsche Fährten lenken. Da stellt man sich schon mal vor, wie die Autorin die Personen auf einem grossen Whiteboard aufgezeichnet hat und sie mit verschiedenen Linien für die unterschiedlichen Verflechtungen verbunden hat. Nicht nur, um im Griff zu behalten, wer mit wem in welcher Beziehung steht, sondern auch, wer wem was angetan hat, wer mit wem befreundet oder verfeindet ist, wer mit wem welches Geheimnis teilt, wer mit wem eine heimliche Affäre hatte oder hat, und sogar, wer wirklich die Väter gewisser Kinder sind.
Für meinen Geschmack ist das Beziehungsgeflecht etwas überfrachtet, und auch der eine oder andere Twist wirkt nicht unbedingt zwingend. Doch Lando hat erzählerisches Talent, es gelingen ihr atmosphärische Schilderungen aus dem Regenwald. Wobei Regenwald nicht einfach nur eine Bezeichnung ist. Es regnet in den Tagen, in denen Callum vor Ort ist, praktisch ununterbrochen, was die verlogene Kleinstadt-Tristesse noch etwas düsterer macht.
Wertung: 3,7 / 5
Veronica Lando: Der flüsternde Abgrund
(Original: The Whispering. HarperCollins Australia, Sydney 2022)
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
Suhrkamp, Berlin 2023. 371 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken
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Veronica Lando,
(Geburtsjahr unbekannt) wuchs über der Buchhandlung ihrer Eltern in Melbourne auf – „umgeben von den Geschichten anderer Leute, also war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis ich eine eigene Geschichte schreiben würde“, schreibt sie. Zunächst wurde sie Physiotherapeutin. Sie schloss an der Griffith University in Brisbane mit einem Bachelor of Physiotherapy and Exercise Science ab und arbeitete an verschiedenen Orten in Australien als Physiotherapeutin und Pilates-Lehrerin.
Zum Schreiben fand sie schliesslich nach der Geburt ihres ersten Kindes. Sie habe sich damit etwas Zeit für sich selbst nehmen wollen. Beim Geschichtenschreiben merkte sie, dass ihr gewisse handwerkliche Voraussetzungen fehlten, und sie absolvierte eine umfassende Ausbildung am Australian Writers’ Centre. Ihren ersten Roman, „The Whispering“, der jetzt unter dem Titel „Der flüsternde Abgrund“ auf Deutsch erschienen ist, schrieb sie während eines Mutterschaftsurlaubs. Das unveröffentlichte Manuskript wurde mit dem HarperCollins Banjo Prize für Belletristik ausgezeichnet und brachte ihr einen Buchvertrag ein. Inzwischen ist ihr zweiter Roman „The Drowning Girls“ (2023) erschienen, ein dritter Roman ist in Vorbereitung.
Veronica Lando hat drei Töchter und lebt mit ihrer Familie in Townsville, im Nordosten des australischen Bundesstaates Queensland.