Wer löschte Harriets Erinnerungen?
Der erste Satz
Der Zug hält auf offener Strecke, was nichts Aussergewöhnliches ist.
Krimi der Woche ∙ N° 44/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Deutschland brennt. Hitze und extreme Trockenheit sind alltäglich geworden. Ein Waldbrand stoppt den Zug, in dem Harriet nach Giessen unterwegs ist, um dort für einen Kunden ein Klavier zu stimmen. Die Reisenden steigen auf offenem Feld aus dem Zug. Verfolgen die Evakuierung der Bewohner einer Seniorenresidenz. Harriet sieht in einem Haus nahe am brennenden Wald eine Frau hinter einem Fenster. Sie kann offensichtlich nicht raus. Zusammen mit zwei Mitreisenden kann Harriet die Frau aus dem Haus retten.
„Memoria“, der neue Thriller der deutschen Autorin Zoë Beck spielt, wie der Vorgänger „Paradise City“, in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft. Harriet, die im Security-Bereich in einem Luxuskaufhaus jobbt und Klaviere und Flügel stimmt und repariert, lebt in Frankfurt in einem verlassenen Bürohochhaus. Wenn sie von da auf die Stadt hinunterblickt, versucht sie sich vorzustellen „wie die Stadt ausgesehen haben muss, als Strom noch nicht so knapp war und nachts überall Strassenlaternen brannten. Sie kennt Fotos, Drohnenaufnahmen aus der Zeit, die nächtlichen Strassen der Grossstädte wirken darauf wie Lavaströme. Jetzt sind nur die Häuser der Reichen beleuchtet.“
Nach der Rettungsaktion am Waldrand ist Harriet ziemlich von der Rolle. Die gerettete Frau hat, als sie Harriet sah, ihren Namen geflüstert. Harriet ist sich sicher, auch wenn die Frau das später bestreitet. Und um die Frau vom Inferno wegzubringen, hat sich Harriet im nahen Schuppen den Wagen der Frau geholt und hat sie weggefahren. Erst nach der spontanen Aktion fragt sie sich, wie sie das gemacht hat. Sie kann ja gar nicht Auto fahren. Da ihr Rucksack dem Feuer zum Opfer fiel, muss sie sogleich aufs Amt, um sich neue Chipkarten machen zu lassen. Zu den Karten, die sie bekommt, gehört auch ein Führerschein auf ihren Namen. Aber sie hat doch nie einen Führerschein gemacht! Die Beamtin versichert ihr, dass das schon richtig sei.
Harriet hat Alpträume. Erinnerungsfetzen tauchen auf. Sie weiss nicht, was real ist. „Es gibt ein Schwarzes Loch in ihrem Leben. Bisher wurde alles, was sich seinem Ereignishorizont genähert hat, davon verschluckt. Aber irgendwann hat sich ein Wurmloch gebildet und schleudert nach und nach die verschluckte Materie heraus.“ So macht sie sich auf nach München, wo sie aufgewachsen ist, wo ihre Familie eine Villa besass. Das Haus, von dem ihre inzwischen längst bei einem Verkehrsunfall umgekommene Mutter gesagt hatte, sie hätten es verkauft, steht leer. Und ihre Sachen sind teils noch dort, vor allem ihr Flügel.
Nach und nach kehren einzelne Erinnerungen zurück. Doch kann sie denen trauen? Und kaum ist Harriet in ihrer alten Heimat, wird es gefährlich. Nicht nur für sie, sondern auch für andere Menschen aus ihrem früheren Leben. Alte Geschichten kochen hoch. Mit Gewalt. Dennoch will Harriet ihr altes Leben, aus dem ihr wesentliche Erinnerungen fehlen, rekonstruieren. Herausfinden, was mit ihrem Verstand geschehen ist. Und wer dafür verantwortlich ist.
Der Thriller dreht sich, ohne ins Wissenschaftliche zu kippen, im Grunde um neurologische Forschungen zum menschlichen Gedächtnis. Zoë Beck ist es gelungen, ein so komplexes und eigentlich recht theoretisches Thema in einen spannenden Zukunftsthriller zu packen. Einzig am Ende kippt die Geschichte für einen Moment etwas ins wissenschaftliche Erklären in Form eines Gesprächs zwischen Harriet und einer alten Forscherin, die mit Harriets Mutter zusammengearbeitet hatte. Doch die zupackende Erzählweise mit vielen knackigen Dialogen, der raffinierte Plot, die Action und nicht zuletzt die Blicke auf unsere zukünftige Lebenswelt machen „Memoria“ zu einem intelligenten Lesevergnügen.
Wertung: 3,7 / 5
Zoë Beck: Memoria
Suhrkamp, Berlin 2023. 281 Seiten, 16,95 Euro/ca. 24 Franken
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Zoë Beck,
geboren 1975 als Henrike Heiland in Ehringhausen im hessischen Lahn-Dill-Kreis, begann als Kind, Klavier zu spielen, hatte Auftritte und wurde bei Wettbewerben ausgezeichnet. Nach dem Abitur studierte sie dann aber deutsche und englische Literatur in Giessen, Bonn und im nordostenglischen Durham. Das Studium schloss sie mit einer Magisterarbeit über die amerikanische Krimiautorin Elizabeth George ab.
Sie arbeitete als TV-Produzentin und Lektorin, schrieb unter anderem Drehbücher für das Kinderfernsehen. Bis heute ist sie als Drehbuchautorin und als Synchronisationsregisseurin tätig. Von 2006 bis 2011 veröffentliche sie fünf Romane unter dem Namen Henrike Heiland. Seit 2007 nennt sie sich Zoë Beck und hat inzwischen zehn Romane unter diesem Namen veröffentlicht.
Sie wurde mit etlichen Auszeichnungen geehrt, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis (2010), dem Radio-Bremen-Krimipreis (2014), der Goldenen Auguste für ihre Verdienste um Kriminalliteratur von Frauen (2018), dem Wiesbadener Krimistipendium 2019 und als BücherFrau des Jahres (2022). Für ihren vorletzten Thriller „Paradise City“ (2020) erhielt sie den Deutschen Krimipreis in der Kategorie National sowie den Politkrimipreis der Heinrich-Böll-Stiftung. Für die Reclam-Reihe „100 Seiten“ hat sie das Sachbuch „Depression“ (2021) geschrieben, in dem sie privat-persönliche und wissenschaftliche Erkenntnisse zu dieser Krankheit zusammenbringt.
Zoë Beck ist auch als Literaturübersetzerin tätig; sie übetrrug unter anderem Romane von Sally Rooney, Denise Mina, Pippa Goldschmidt und James Grady ins Deutsche. 2013 gründete sie mit Jan Karsten den in Hamburg ansässigen Literaturverlag CulturBooks, den sie zusammen mit Karsten leitet. Sie ist Mitbegründerin des feministischen Schriftstellerinnennetzwerks Herland und Mitglied verschiedener Branchenorganisationen wie Litprom, BücherFrauen und PEN Berlin.
Seit 2004 lebt und arbeitet sie in Berlin.