Ein Toter, der Bus fährt
Der erste Satz
Der beim Aufprall aufgewirbelte Staub sinkt langsam auf die Körper hinab.
Krimi der Woche ∙ N° 42/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Es beginnt mit einem Zugsunglück. Auf einem Berg von Körpern kommt Hugo zu liegen. Ein Bild es heiligen Expeditus flattert durch den aufgewirbelten Staub, Hugo bekommt es zu fassen. In der einen Hand das Heiligenbildchen, in der anderen das Handy, versucht er sich aus dem Haufen von Toten und Verletzten zu befreien. Das Handy leuchtet auf, eine Nachricht seiner Lebenspartnerin Marta: „Komm schnell.“ Und dann noch eine: „Die polizei sucht dich.“ Hugo antwortet: „Entschuldige, ich habe einen Riesenscheiss gebaut.“
Hugo betreibt nach einem gescheiterten Journalismusstudium einen Schlüsseldienst und ist in dringlichen Angelegenheiten unterwegs. „Dringliche Angelegenheiten“ ist der Titel des Romandebüts der argentinischen Journalistin Paula Rodríguez. Es ist ein ziemlich schräges Stück, auch ziemlich düster, gleichzeitig aber auch ziemlich witzig.
Hugo hat für einen Einsatz statt dem Bus den Zug genommen. Er weiss, warum die Polizei ihn sucht: Er hat einen Mann umgebracht. Jetzt sieht er das Unglück als Chance: Er könnte abhauen und unter einem anderen Namen neu anfangen, während man ihn unter den Toten wähnt. Dass zwei zerstückelte Leichen nicht identifiziert werden können, hilft ihm dabei.
Abhauen will auch Marta mit der gemeinsamen Tochter Evelyn. Zunächst reisen sie über die Grenze nach Brasilien zu Martas Schwester Mónica. Die ist fromm und organisiert gleich Massengebete für den angeblich toten Hugo. Mónica arbeitet in einem Casino, daneben vertreibt sie im Tupperware-Stil Dildos. Als die 13-jährige Evelyn ein Versteck für ein geklautes Handy sucht, stösst sie auf das Warenlager der Tante. Und lässt sich von einem Monsterteil in Versuchung führen.
In Buenos Aires versucht derweil Martas Mutter dem unermüdlichen Kommissar Domínguez klar zu machen, dass es am einfachsten wäre, eines der nicht identifizierten Unfallopfer als Hugo abzubuchen. Wenn soll es da schon kümmern, dass die DNA nicht passt. Der aufsässige Kommissar jedoch ist ein Workaholic. „Es geht ihm aber nicht um die Wahrheit, Korrektheit oder Gerechtigkeit, oder gar um das Gute oder irgendwelche anderen hohen Werte. Er kommt einfach nicht dagegen an – der Kreis muss sich schliessen, alles muss zusammenpassen, das braucht er nun mal. Nur das. Sonst nichts. Und in diesem Fall gerät alles immer mehr durcheinander, genau wie die Körperteile, die keiner richtig zusammenbekommt.“
Über die Frage, ob Tote Bus oder Zug fahren oder nicht, hatte sich Hugo mit seinem Professor überworfen. Denn er hatte einmal geschrieben: „Das Todesopfer fuhr mit dem Zug nach Sarmiento.“ Das brachte ihm viel Spott ein und veranlasste ihn, das Journalismusstudium aufzugeben. Nun, unterwegs im 57er Bus, spürt er eine späte Genugtuung – „als ein Toter, der Bus fährt“.
Es geht stetig abwärts mit Hugo. Und das macht aus diesem auf vergnügliche Art etwas überspannten Kriminalroman aus Argentinien auch einen veritablen Noir.
Wertung: 4 / 5
Paula Rodríguez: Dringliche Angelegenheiten
(Original: Causas urgentes. Penguin Random House, Buenos Aires 2020)
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag, Zürich 2023. 216 Seiten, 24 Euro/ca. 32 Franken
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Paula Rodríguez,
geboren 1968 in Argentinien, studierte an der Journalistenschule Taller Escuela Agencia (TEA) in Buenos Aires, an der sie später selber unterrichtete und Koleiterin des Bereichs TEA Arte war. Als Journalistin und Redaktorin war und ist sie für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Sie ist Mitbegründerin mehrere Magazine. In ihrer Arbeit engagiert sie sich für feministische Anliegen. Sie kämpfte insbesondere auch während Jahren für das Recht auf Abtreibung.
„Dringliche Angelegenheiten“ ist erster Roman. Sie wurde damit für den Premio Memorial Silverio Cañada nominiert. Sie lebt in Buenos Aires.