Betrüger, Schwindler, Fälscher und Lügner
Der erste Satz
Mit der Nelke kam ich mir albern vor.
Krimi der Woche ∙ N° 41/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Philip St. Ives, der dandyhafte Lebemann aus New York, reist für eine neue Aufgabe als Mittelsmann nach London, wo er mal eine Zeitlang als Journalist gelebt hat. Mit einer Nelke im Knopfloch, so verlangt es ein Anrufer, kaum hat er sein Hotelzimmer bezogen, soll er in einem Pub aufkreuzen. Das führt dazu, dass er die erste Nacht nicht im Hilton, sondern in einer Zelle bei der Londoner Polizei verbringt.
St. Ives ist die Hauptfigur von fünf witzigen Schelmenromanen, die der brillante amerikanische Politthriller-Autor Ross Thomas (1926–1995) zwischen 1969 und 1976 unter dem Pseudonym Oliver Bleeck veröffentlichte. „The Highbinders“ von 1973 erschien auf Deutsch erstmals 1974 unter dem Titel „Ein scharfes Baby“, runtergekürzt, um nicht massakriert zu sagen, auf 126 Seiten. „Zu hoch gepokert“ heisst jetzt die erste vollständige deutsche Fassung im Rahmen der wunderbaren Ross-Thomas-Werkausgabe des Berliner Alexander-Verlags, die exakt doppelt so viele Seiten hat.
St. Ives soll als Mittelsmann ein kostbares Schwert aus dem Mittelalter, das gestohlen wurde und das die Diebe für hunderttausend Pfund wieder rausrücken wollen, zurückkaufen. Sein Kontaktmann dafür ist ein alter Bekannter, ein brillanter Trickbetrüger, der noch nie erwischt wurde. Praktisch alle, und es sind nicht wenige, in diesen Fall involvierten Personen sind Betrüger, Schwindler, Fälscher. Vertrauen kann St. Ives niemandem, und er kann froh sein, dass er, im Gegensatz zu mehreren anderen Beteiligten, am Ende noch lebt.
„Ein guter Schwindler ist, glaube ich, der ultimative Realist“, stellt St. Ives fest. „Er muss es sein, weil er sich in seinem Geschäft keine Illusion leisten kann. Wenn er sich Illusionen machte, vor allem über die Schichten von Gier, die um das menschliche Herz gewickelt sind, könnte er kein Schwindler sein – jedenfalls kein erfolgreicher. Und wenn ein Deal geplatzt ist und das vorgesehene Opfer irgendwie den Braten gerochen hat, kann der Schwindler und ultimative Realist nur noch lächeln, die Schultern heben und sich verdrücken. Nur einen halben Block entfernt gibt es immer ein weiteres potentielles Opfer.“
Es gibt reichlich Action, auch brutale, die jedoch oft etwas slapstickartiges hat. Daneben besticht „Zu hoch gepokert“ mit, wie gewohnt bei diesem brillanten Autor, mit Ironie und Sarkasmus. Und der Hauptschauplatz gibt ihm immer wieder Gelegenheit, sich über britische Eigenheiten lustig zu machen. Etwa wenn St. Ives einen Kaffee dankend ablehnt: „Manche Dinge sollte man in England lieber nicht riskieren.“ Auch mit dem Mythos, das englische Frühstück sei im Gegensatz zu den anderen Mahlzeiten in diesem Land wirklich toll, räumt er radikal auf. Selbst Inneneinrichtungen sind nicht vor seinem Spott gefeit: „Im offenen Kamin war diese merkwürdige britische Erfindung versteckt, der elektrische Heizstrahler, mit man den Raum an einem kalten Tag auf behagliche acht Grad erwärmen konnte.“
Eine höchst vergnügliche Lektüre.
Wertung: 4,1 / 5
Ross Thomas: Zu hoch gepokert
(Original unter dem Pseudonym Oliver Bleeck: The Highbinders. William Morrow, New York 1973;
gekürzte deutsche Erstausgabe: Ein scharfes Baby. Ullstein, Berlin 1974)
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
Alexander Verlag, Berlin 2023. 252 Seiten, 16,90 Euro/ca. 24 Franken
Bestellen bei Amazon
Ross Thomas,
geboren 1926 in Oklahoma City, gestorben 1995 in Santa Monica, Kalifornien, war im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf den Philippinen. Er arbeitete unter anderem als Journalist in den USA, in Deutschland und in Nigeria. In den 1950ern baute er in Bonn das Büro des amerikanischen Radiosenders AFN auf. Später war er PR- und Wahlkampfberater für Politiker wie Lyndon B. Johnson sowie Gewerkschaftssprecher.
Erst mit 40, nach jahrelangen intimen Einblicken in den Politbetrieb, begann er mit dem Schreiben von Politthrillern. Für seinen ersten Roman „The Cold War Swap“ („Kälter als der kalte Krieg“) wurde er 1967 mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Erstling ausgezeichnet; einen weiteren Edgar erhielt er 1985 für „Briarpatch“ („Dornbusch“). Von 1966 bis 1994 schrieb Thomas 25 Politthriller und Kriminalromane, darunter unter dem Pseudonym Oliver Bleeck fünf Romane um den Go-Between Philip St. Ives. Ab 1982 schrieb er auch Drehbücher für TV-Serien.
Alle Romane von Ross Thomas, die ursprünglich auf Deutsch oft nur stark gekürzt herausgegeben worden sind, erscheinen seit 2005 im Berliner Alexander Verlag in einer originalgetreuen deutschen Werkausgabe. Der jetzt neu erschienene Titel „Zu hoch gepokert“ ist bereits der 23. Band dieser verdienstvollen Werkausgabe und der letzte der fünf St.-Ives-Romane.
Von 1975 bis zu seinem Tod als Folge von Lungenkrebs zwei Monate vor seinem 70. Geburtstag lebte Ross Thomas mit seiner zweiten Frau im Strandort Malibu bei Los Angeles.