Sex, Schmerz und Tod
Der erste Satz
Sam verdrillte ihre alte, gelbe Decke mit dem Entenmuster, von der ihre Grandma erzählt hatte, dass sie nach der Geburt darin eingewickelt gewesen war, und band sie sich so fest um den Hals, bis es ihr die Luft abschnürte.
Krimi der Woche ∙ N° 33/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Sam, eigentlich Samantha, wusste schon immer, dass sie anders ist als die meisten anderen im ländlichen Oklahoma der Neunzigerjahre. Sie erkennt früh, dass ihr Schmerzen Lust bereiten. Ihr Masochismus wird für die Siebzehnjährige fatal, als sie einen neuen Stiefvater samt Stiefbruder bekommt. Zu Stiefbruder Eric, genannt Arrow, entwickelt sich eine nicht ganz einfache Liebesbeziehung. Doch Stiefvater Isaac, ein manipulativer, fieser Sadist, erkennt Sams Neigung. Und nutzt sie brutal aus.
Es ist schwerer Stoff, den Heather Levy in ihrem Krimidebüt „Der süsseste Tod“ auftischt. Sexualität im BDSM-Bereich kommt hier nicht als leichte Unterhaltung à la „Shades of Grey“ daher. Die Autorin ist selbst bekennende Masochistin und hat auch Sachtexte zum Thema publiziert. Als Ahnungsloser in diesem Bereich gehe ich davon aus, dass ihre Darstellungen realistisch sind. Drastisch sind sie auf jeden Fall. Fünfzehn Jahre nach dem Missbrauch durch den Stiefvater weiss Sam: „Vergewaltigung war so viel mehr als ein rein körperlicher Akt. Er hatte ihr jede Wahl genommen und sich ihr Verlangen angeeignet, es so verdreht, dass es zu seinem wurde. Er hatte ihre Fähigkeit zerstört, schlechte Absichten von Männern zu erkennen, was sie viele Jahre Therapie gekostet hatte.“
Heather Levy erzählt die Geschichte parallel aus der Sicht von Sam und von Eric aka Arrow. Und, ebenfalls parallel, auf zwei Zeitebenen: 1994, Sam ist da 17, Eric 16, und 2009. Fünfzehn Jahre nach den dramatischen Ereignissen auf der Farm in Blanchard, Oklahoma, von denen wir stückchenweise erfahren, begegnen sich Sam und Eric zum ersten Mal wieder: Er betritt die Bank in Oklahoma City, in der sie arbeitet. Gleichzeitig findet die Polizei die sterblichen Überreste von Isaac, der 1994 verschwunden war. Er ist damals offenbar ermordet worden. Schnell ist Eric der Hauptverdächtige der Polizei. Doch Sam ist überzeugt, dass sie da falsch liegt.
Der Plot ist geschickt aufgebaut, raffiniert und über weite Strecken packend erzählt. Levy vermittelt nachvollziehbar verschiedene Ambivalenzen wie Sams Gefühle zwischen Scham und Lust, die teilweise Zwiespältigkeit in der Wahrnehmung von Opfer und Täter oder die Spannung zwischen Liebe und Schmerz. Eigentlich liebt Sam Eric, doch dass er sagt, „Ich würde dir nie weh tun“, bremst ihre Zuneigung.
Levy ist sehr bestrebt, die Tücken und Freuden des Masochismus wahrhaftig zu zeigen. Das ist lobenswert, wirkt aber zuweilen ein bisschen didaktisch. Etwas schematisch sind an vielen Kapitelenden eingesetzte Cliffhanger, die für mich nicht nötig werden. Die Autorin dürfte hier viel mehr auf die Kraft ihrer Story vertrauen. Trotz solcher Details ist „Der süsseste Tod“ ein beeindruckendes Debüt. Levy ist eine begabte Erzählerin, was sich auch in kleinen Charakterisierungen manifestiert. Etwa wenn Sam ihrem neuen Stiefvater zum ersten Mal begegnet: „Sam schaute sich Isaac an und sah jemanden, der zu selbstsicher war, als dass man ihm trauen könnte.“
Wertung: 4 / 5
Heather Levy: Der süsseste Tod
(Original: Walking Through Needles. Polis Books, New York 2021)
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Mit einem Nachwort von Sonja Hartl
Polar Verlag, Stuttgart 2023., 365 Seiten, 17 Euro/ca. 24 Franken
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Heather Levy,
geboren (Jahrgang unbekannt) und aufgewachsen in Oklahoma, absolvierte das MFA-Programm Red Earth für kreatives Schreiben der Oklahoma City University. Sie schrieb unter anderem Lyrik und ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Magazinen veröffentlicht. Dabei erkundet sie immer wieder dunkle Seiten der Menschen. Für den Verlag Literati Press schrieb sie eine Sachtext-Reihe über die menschliche Sexualität, darunter „Welcome to the Dungeon: BDSM in the Bible Belt“. Sie spricht auch offen über ihren eigenen Masochismus.
„Walking Through Needles“, jetzt als „Der süsseste Tod“ auf Deutsch erschienen, ist ihr erster Roman. Er wurde für den Anthony Award in der Kategorie „Bestes Debüt“ nominiert. Im Januar 2024 erscheint in den USA ihr zweiter Roman „Hurt for Me“. Es gehe darin um „eine alleinerziehende Domina“ und es sei „eine stark feministische Sicht auf BDSM und Sexualität“, sagte sie in einem Interview, das Sonja Hartl mit ihr führte.
Heather Lynn Levy lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und drei Katzen in Oklahoma.