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Gangster, Gendarmen und eine Horde Hippies auf dem Dorf

Der erste Satz
Niemand wusste eigentlich, wie sie hierher gekommen waren, einzeln oder gruppenweise.

Krimi der Woche ∙ N° 28/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Heute würde man dieses Buch als „Country Noir“ bezeichnen. 1972 war das rurale Setting für einen Kriminalroman in Europa noch ungewohnt. „La Nuit des grands chiens malades“ war nicht der erste Roman des damals 25-jährigen Alain Fournier, der unter den pseudonymen Initialen A. D. G. neben Jean-Patrick Manchette der Shootingstar der „Série Noire“ von Gallimard war, der renommiertesten Krimireihe nicht nur Frankreichs. Aber es war sein erster Roman einer Serie, deren Handlung er in der ländlichen Region ansiedelte, in der er aufgewachsen war: in der Provinz Berry in Zentralfrankreich, rund zweihundertfünfzig Kilometer südlich von Paris.

Saint-Vincent du Saux heisst das fiktive Kaff, gelegen irgendwo zwischen den Städten Châteauroux und Bourges, in dem die gesamte Geschichte von „Die Nacht der kranken Hunde“ spielt. Der Roman war 1973 in einem kleinen Verlag auf Deutsch erschienen und ist jetzt bei Elsinor von Martin Compart in seiner „Klassiker des Noir-Thrillers“-Reihe neu aufgelegt worden. In einem fachkundigen Nachwort ordnet er Autor und Werk ein.

In der Kneipe von Maupas in Saint-Vincent herrscht helle Aufregung. Eine Horde von Hippies hat auf einer Wiese vor dem Ort ein Zeltlager aufgebaut. Man sage, die Leute hier seien „ein bisschen hinterm Mond“, erfahren wir vom Icherzähler. „Und voller Aberglauben. Trotzdem: Fernseher haben wir auch hier, und wir wissen auch, was Hippies sind: junge Leute mit Rauschgift, die ihre Frauen verleihen, ganz gleich an wen.“ Doch schon bald erweist sich, dass diese Hippies eigentlich ganz nett sind, und man trifft sich schon mal zum gemeinsamen Gelage.

Doch dann wird eine alte Einzelgängerin im Ort ermordet aufgefunden. Während die Polizei sogleich die Hippies verdächtigt, stehen die einheimischen Bauern auf der Seite der Langhaarigen. Als dann der Bruder der Toten, der illegalen Geschäften nachgehen soll und sich seit Jahrzehnten nicht mehr gezeigt hat, in Saint-Vincent auftaucht, eskaliert die Lage. Das Zeltlager der Hippies geht in Flammen auf, die Bauern bewaffnen sich und stehen den Hippies bei, doch zunächst wissen sie gar nicht recht gegen wen. So entwickelt sich eine turbulente Geschichte, durch die ein Hauch fröhlichen Anarchismus’ weht. Gegen Gangster und Gendarmen finden die aufmüpfigen Jungen und die konservativen Bauern locker zusammen.

Zwar entfallen in der deutschen Fassung die Patois-Einsprengsel des Originals, aber auch ohne diese Mundartwörter gefällt diese Geschichte durch Schalk und träfe Beschreibungen des Landlebens. Der Icherzähler lässt sich selbst im Hintergrund stehen, gehört aber offensichtlich zu den Bauern, die gerne in der Dorfkneipe auch schon tagsüber dem Alkohol zusprechen. Vor allem durch das Ende, das hier nicht verraten sei, erinnert er an die sich selbst verharmlosenden Erzähler in Romanen des amerikanische Noir-Meister Jim Thompson (1906–1977).

Eine französische Version des amerikanischen Noir-Romans zu schaffen, war denn auch eines der Ziele des jungen A. D. G., der sich als rechter Anarchist verstand und den Antisemiten Céline verehrte. Dasselbe beschäftige den linken Verlagskollegen Jean-Patrick Manchette. Zusammen wurden die beiden zu den wichtigsten Exponenten des Neo-Polar, wobei sich ihre Kritik an Staat und Gesellschaft trotz der diametralen politischen Ansichten nicht gross unterschieden. Als Schriftsteller wurde A. D. G. auch von den fortschrittlichen Kollegen anerkannt (mehr über ihn in den biografischen Angaben weiter unten).

Wertung: 3,5 / 5

A. D. G.: Die Nacht der kranken Hunde
(Original: La nuit des grands chiens malades. Editions Gallumard, Paris 1972;
Deutsche Erstausgabe: König Verlag, München 1973)
Aus dem Französischen von Kurt Müller. Mit einem Nachwort von Martin Compart
Elsinor Verlag, Coesfeld. 194 Seiten,19 Euro/ca. 27 Franken

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Bild: 1991, babelio.com
via Wikipedia, CC BY-SA 4.0

A. D. G.

sind die Initialen des Pseudonyms Alain Dreux-Gallou von Alain Fournier, geboren 1947 in Tour, gestorben 2004 in Paris. Unter seinem wirklichen Namen zu publizieren, schloss er wegen dem berühmten Autor Henri Alain-Fournier (eigentlich Henri-Alban Fournier, 1886–1914; „Der grosse Meaulnes“) aus. Dreux und Gallou waren die Namen seiner Grosseltern.

Fournier wuchs in einer sozialistischen Arbeiterfamilie auf, von der er sich abwandte, als er als Zwölfjähriger die staatliche Schule verliess, um eine Militärschule zu besuchen. Nachdem er zunächst bei einer Bank gearbeitet hatte, wurde er Buchhändler und Antiquitätenhändler; an Flohmärkten verkaufte er vor allem alte Waffen. Von 1966 bis 1971 arbeitete er für den Verlag der Jeune Force poétique française, einer Organisation, die Amateurpoeten veröffentlichte. Ab Anfang der 1970er Jahre veröffentlichte er Kriminalromane in der berühmten Reihe „Série noire“ des Verlags Gallimard . Neben Jean-Patrick Manchette (1942–1995) war er der zweite wichtige Erneuerer der französischen Kriminalliteratur. Die beiden politisch gegensätzlichen Autoren gelten als die Pioniere des Neo-Polar. Während Manchette der radikalen Linken angehörte und die meisten Noir-Autoren der Zeit eher links standen, war A. D. G. zunächst rechts-anarchistisch, mit der Zeit entwickelte er sich zum wahren Rechtextremisten. In seinen Büchern spielt diese persönliche Haltung jedoch kaum eine Rolle. Bevor er sich dem Front National anschloss, galt er als rechts-libertär, und wie die linken Anarchisten der Siebziger stand auch er der Staatsmacht kritisch gegenüber, wenn auch von der „anderen“ Seite.

Bis 1988 veröffentlichte er rund zwanzig Romane bei Gallimard. Der jetzt auf Deutsch neu aufgelegte Titel „La Nuit des grands chiens malades“ erschien 1972 und wurde vom bekannten Regisseur Georges Lautner unter dem Titel „Quelques messieurs trop tranquilles“ mit mässigem Erfolg verfilmt.

1982 zog Fournier nach Neukaledonien, der französischen Inselgruppe im Südpazifik, wo er sich unter anderem gegen die Unabhängigkeitsbewegung engagierte. 1991 kehrte er zurück nach Paris und feierte 2003 mit „Kangouroad movie“ ein kleines literarisches Comeback.

Mit 57 Jahren starb er am 1. November 2004 in Paris an den Folgen einer Krebserkrankung. Zu seiner Beisetzung in Véretz im Loiretal reiste Frankreichs rechte Politprominenz an, darunter Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen und Marine Le Pen. „Tod einer Nervensäge“, betitelte die linke „Libération“ ihren Nachruf, in dem sie ihn als Schriftsteller ehrte, seinen „wundervollen Stil“ rühmte und ihn als „Fascho, um zu provozieren“ bezeichnete.


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