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Subtiler MeToo-Thriller aus der Filmwelt

Der erste Satz
Heute sehe ich klar.

Krimi der Woche ∙ N° 22/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

„Wenn man in dieser Welt weiterkommen will, sagt man niemals Nein. Man sagt grundsätzlich Ja.“ Es geht um das Lesen von Drehbüchern für einen Regisseur, wenn Sarah Lai dies sagt. Aber es kann für alles in der Filmbranche stehen.

Sarah ist die Hauptfigur in „Komplizin“, dem neuen Thriller von Winnie M Li. Die in England lebende amerikanische Autorin und Aktivistin hat in ihrem Romandebüt „Dark Chapter“ (2017; Deutsch: „Nein“, Arche Verlag 2018) ihre brutale Vergewaltigung thematisiert. Mit sexueller Gewalt in jeder Form setzt sie sich nicht nur als Autorin, sondern auch als Mitgründerin des Filmfestivals Clear Lines in England und bei der Forschung für ihre Doktorarbeit an der London School of Economics.

Sexismus, Missbrauch und sexuelle Gewalt in der Filmbranche ist das Thema ihres zweiten Romans. Sie geht dieses nicht reisserisch an, sondern sehr subtil. Was nicht nur der Glaubwürdigkeit, sondern auch der Spannung sehr dienlich ist. Von Anfang an ist klar, dass Sarah und wohl auch anderen in der Filmwelt Böses geschehen ist. Doch die Geschichte entwickelt sich langsam und zeigt dabei sehr schön die althergebrachten, von Männern geprägten Mechanismen in der Filmbranche, die wir ähnlich auch aus anderen kreativen Bereichen kennen. Und die es möglich machen, dass Übergriffe über Jahre geschehen können.

Sarah Lai, wie die Autorin Tochter chinesischer Einwanderer in den USA, lebt ihre Leidenschaft für den Film. In ihrer Familie, die im New Yorker Stadtteil Flushing ein chinesisches Restaurant betreibt, ist sie die Aussenseiterin, die nicht verstanden wird. Doch ihre Träume gehen in Erfüllung. Sie beginnt als Praktikantin bei einer kleinen, von einer Frau geführten Filmproduktionsfirma in New York. Bald überarbeitet sie Drehbücher, wird Head of Development. Sie reist an das Filmfestival von Cannes, leitet in Hollywood die Produktion eines Films, der mit einem Golden Globe ausgezeichnet werden wird.

Davon erzählt die inzwischen 39-jährige Sarah zehn Jahre später einem Reporter der „New York Times“. Dieser recherchiert über den schwerreichen Filmfinanzierer (Executive Producer) Hugo North, der mit seinem Geld in die Firma, bei der Sarah arbeitete, eingestiegen war. North bekam immer, was er wollte. „Ob durch Charme oder Reichtum, Gewalt oder einen Rauschzustand, war ihm ganz egal. Für ihn waren das nur unterschiedliche, gleichermassen legitime Mittel zum Zweck.“

Die Inhaberin der Filmfirma sagt dem NYT-Reporter in einem Interview: „So läuft es in Hollywood, seit es Hollywood gibt. Als Frau lernt man, damit zu leben, wegzusehen und sich nicht von den eigenen Zielen ablenken zu lassen.“ Genau darum geht es Winnie M Li. Missbräuchliches Verhalten spielt sich beim Film oft mehr oder weniger vor den Augen anderer ab. Die das vielleicht schlimm finden, aber trotzdem schweigen, „weil sie ihren Job nicht gefährden wollen, weil sie ehrgeizig sind, weil sie das Gefühl haben, dass man ihnen nicht einmal zuhört oder sie ernst nimmt“, wie Li in einem Interview erklärte. Sie weiss, wovon sie spricht. Sie war selbst während sechs Jahren in der Filmproduktion tätig, war beruflich in Cannes, besuchte die Oscar-Verleihung.

Sarah hat sich nach der Golden-Globe-Episode aus dem Filmbusiness zurückgezogen und wurde Lehrerin. Auch nach zehn Jahren hadert sie noch mit ihrem Verhalten beziehungsweise Nichtstun gegen den übergriffigen Hugo North. „Ich bin genauso schlimm wie die, stimmt’s?“, sagt sie einmal zum Journalisten. Inzwischen hat North, der offenbar Wind bekommen hat von den NYT-Recherchen, ihr aus dem Nichts Champagner geschickt und einen Filmjob angeboten.

Wertung: 3,8 / 5

Winnie M Li: Komplizin
(Original: Complicit. Orion Books, London 2022)
Aus dem Englischen von Stefan Lux
Suhrkamp, Berlin 2023. 476 Seiten, 18 Euro, ca. 25 Franken

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Bild: Grace Gelder

Winnie M Li,

geboren 1979 in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut als Tochter von Einwanderern aus Taiwan, wuchs in Pennsylvania und New Jersey auf. Sie studierte Volkskunde und Mythologie an der Harvard University und zog nach dem Abschluss nach Cork in Irland, um an der National University of Ireland den MA in Englisch zu machen.

2008 weilte Li für eine Konferenz in Zusammenhang mit dem zehnten Jahrestag des Friedensabkommens in Nordirland. Im Colin Glen Forest Park in Belfast wurde sie von einem 15-jährigen Jungen vergewaltigt, wobei sie zahlreiche Verletzungen erlitt. Der Fall erregte im ganzen Land Aufsehen; der Täter wurde verhaftet und später verurteilt.

Li begann über ihre Erfahrungen zu schreiben. Sie veröffentlichte Beiträge in Anthologien sowie in Zeitungen und Zeitschriften. Sie war zudem als Autorin von Reiseführern, als Produzentin von Indie-Filmen und als Programmkuratorin für Filmfestivals tätig. 2017 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Dark Chapter“ (Deutsch: „Nein“, Arche Verlag, 2018), in der sie eine Vergewaltigung aus der Sicht des Opfers und derjenigen des Täters beschrieb. Das Buch wurde für den Edgar Award für das beste Debüt nominiert, und Li schrieb das Drehbuch für eine Verfilmung. „Komplizin“ (Original: „Complicit“, 2022) ist ihr zweiter Roman.

Winnie M Li ist Mitbegründerin des Clear Lines Festivals in England, das sich auf Themen rund um sexuelle Gewalt konzentriert. An der London School of Economics arbeitet sie an einer Doktorarbeit über das Medienengagement von Vergewaltigungsopfern als Form des Aktivismus. Für ihr Engagement wurde sie von der National University of Ireland mit der Ehrendoktorwürde geehrt. Sie lebt mit ihrem Partner und einem kleinen Kind in der Nähe von London.


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